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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon Verlag
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jedem dieser Besuche stellte sich unverzüglich eine neue Erinnerung ein. Im Nachbarhaus schräg über der Strasse lebten zwei fromme Schwestern mit einer Mutter, die sich monoton über Müdigkeit und Schlaflosigkeit beschwerte. Der Vater, ein Schiffsarzt der Ost­indischen Kompanie, war vor Jahren Opfer einer tropischen Seuche geworden, die die ganze Besatzung befallen hatte.
    Die alte Mutter flüsterte ohne Unterlass. Die eine Tochter meinte, es sei allmählich über sie gekommen, die andere, es sei plötzlich passiert. Anfangs hatte man kaum hingehört. In der nächtlichen Stille vernahm man dann aber, dass es lauter unflätige Dinge waren. Wie so viel Wörterunrat sich in einem einzigen, inzwischen fast kahlen Kopf hatte sammeln können, blieb rätselhaft. Die Töchter konnten nicht verhindern,
dass das Flüstern der Mutter auch in der Kirche zu hören war, nicht nur während des stillen Gebets, sondern auch bei der Predigt, in den Sprechpausen, die die Wirkung der Worte Gottes vertiefen sollten.
    Die Töchter baten die Mutter, um Himmelswillen auf den Gottesdienst zu verzichten. Damit weckten sie erst recht den bösen Eigensinn der Alten. Was sie bisher nur geflüstert hatte, schrie sie jetzt in die Gärten hinaus. Die Töchter knieten sich tiefer in ihr Gebet und in die Arbeit. Die eine besorgte den Gemüsegarten, bändigte die Rosenranken und schaute zu den Hühnern und Kaninchen. Die andere kochte und backte und legte die Wintervorräte an. Die Reinigung von Haus und Hof und bald auch der alten Frau war Sache der Dienstmagd.
    Die beiden Schwestern litten unter der Schmach, doch sie blieben gottesfürchtig und keusch. Wenn sie sich all das Peinliche und Abstossende vorstellten, das mit unkeuschen Handlungen verbunden war, mussten sie die Keuschheit weit anziehender finden. Sie erforschten ihr Gewissen und fanden dabei nur die Sünde des Neides. Eine Kusine, die sich, vermuteten sie, ihre Jungfräulichkeit schon hatte rauben lassen, empfing jeden Tag Besuch, und zwar nicht nur Nachbarn, Vettern und Basen. Die Schwestern verrieten einander nicht, dass sie selbst gern einmal der Mittelpunkt eines solchen Treibens gewesen wären, um, wenn es darauf ankam, die zudringlichsten Verehrer empört abzuweisen. Die Sünde des Hochmuts nahmen sie dabei in Kauf.
    Und weiter? Die alte Mutter starb in den Armen der Dienstmagd. Die eine Tochter, die Köchin, wurde melancholisch. Die Rüben und Bohnen kamen ver­salzen oder angebrannt auf den Tisch. Die andere, die Gärtnerin, suchte Beweise für die Liebe Gottes und fand sie schliesslich in der pflanzlichen Natur, die sie umgab, im Blühen der Bohnen, im Reifen der Beeren.
    Die Magd aber heiratete einen tüchtigen Schreinergesellen mit linkischem Gemüt. Sie lehrte ihn und lernte selbst dabei, wie sich die eheliche Liebe bewerkstelligen liess.
    Es ging auf 18 Uhr zu, das Ende der Öffnungszeit. Paul lehnte sich kurz an eine Säule. Sich anzulehnen war dem Aufsichtspersonal nicht streng verboten, aber auch keineswegs erlaubt. Das Anlehnen fiel dann am Wenigsten auf, wenn die Aufsichtsperson selbst etwas Säulenhaftes annahm.
    Vergangene Woche war Wegmann, der Chef, dazugekommen, als Paul einer Schulklasse demonstrierte, was den Besuchern untersagt war: Er berührte ein Gemälde und löste damit den Alarm aus. Dass das falsch war, sehr falsch, merkte er an der Begeisterung der Schüler. Paul hatte sich nach Arbeitsschluss in Wegmanns Büro einzufinden.
    Sie sind bei uns, denke ich, nicht ganz am richtigen Ort, sagte Wegmann.
    Paul fragte: Wo sonst?
    Der Chef seufzte, und das war ein gutes Zeichen.
    Seit jenem Abend stand Paul nur noch auf Zusehen hin im Dienst des Museums. Beim Gedanken, dass Wegmann ihm zusah, fühlte Paul sich aufgehoben und ermutigt.

E r ging ins Freie, ins Wetter hinaus, das den Gemütszustand der Gegend erkennen liess. Paul war jeder Zustand recht. Das Wetter verband ihn zuverlässig und dicht mit dem Ganzen ringsherum, das heute bis über den Horizont hinaus und hinauf zu den Wolken reichte. Das Freie kam ihm freier vor als sonst, die Lücken nahmen ihn sehr bereitwillig auf. Das war auch im Wald noch so, in dem er bald anlangte.
    Paul liebte die geselligen Bäume, die ihn im Gehen mal so, mal anders umstanden. Entferntere Bäume entzogen sich rasch und erschienen wieder, seitwärts verstellt. Wie ein Karussell war das.
    Karussell war

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