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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon Verlag
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Breithorn, Paul. Du kennst das Breithorn, das Zermatter Breithorn.
    Paul kannte es nicht. Doch er hätte, das kam ihm zu spät in den Sinn, wenigstens nicken können.
    Fünfmal war ich oben. Heute aber, heute trinke ich lieber in Ruhe mein Bier. Berge und Bier, ein Bedauern schien nicht dabei zu sein. Theo nannte weitere Hörner, die er alle nicht mehr besteigen wollte, das
Wetterhorn, das Fetschhorn, das Lagginhorn, das Nadelhorn, das Finsteraarhorn.
    Tom sagte: In den Bergen ist sowieso nichts los. Ausser der Natur natürlich.
    Theo blickte Marion nach. Sie winkte mit gespreizten Fingern und ging.
    Paul erhob sich: Ein Bier, in Ruhe ein Bier.
    Recht so, rief Theo ihm in die Küche nach. Es war der Tonfall des älteren Bruders, der Paul sofort viel jünger werden liess. Er bestaunte Theo, sein Auftreten, das Unverrückbare an ihm, das bedenkenlos Selbstgemachte seiner Person und seiner Karriere. Theo sass da mit seiner ganzen Erfolgsgeschichte, an die Paul sich im Einzelnen nicht zu erinnern brauchte, um ein Wetterhorn in ihm zu sehen.
    Theo war Transportunternehmer. Als Automechaniker hatte er angefangen, war dann als Fahrer weit herumgekommen. Er wusste alles über die Frauen von anderswo. Als sein Chef drei alte Lastwagen austauschte, nahm Theo sie zu einem Spottpreis an sich. Er hing an diesen Fahrzeugen, kannte ihre Vorzüge und schmunzelte über ihre Tücken. Die durchgesessenen Sitze liess er erneuern, bezahlte den Sattler mit Transportleistungen. Er fuhr nun auf eigene Rechnung, mit einem Kollegen als Partner, der aber, wie sich zeigte, nur als Fahrer und als Kumpel zu gebrauchen war. Einer, der freitags in der Kneipe ganze Stücke von Gläsern abbiss und zwischen den Zähnen knirschen liess.
    Theo und Paul stützten sich, die Hand am Glas, auf die Ellenbogen. Tom hatte sich über den Küchenbalkon in den Garten davon gemacht.
    Theo schnäuzte sich laut in ein viel zu kleines Papiertaschentuch. Und du? Good news?, fragte er.
    Paul nickte.
    Die Ärzte zufrieden?
    Sehr. Sehr zufrieden.
    Theo überhörte die Auskunft oder vergass sie
gleich wieder. Beim Abschied, der nach dem zweiten Bier erfolgte, wünschte er Paul eine gute Besserung. Er packte die Klinke, drehte sich auf der Schwelle um und mit einer über dem Kopf geschüttelten Faust beschwor er die gute Besserung herauf, machte sie fast schon unabwendbar.
    Paul dachte über seine Fortschritte nach. Marion klagte kaum mehr über ein Durcheinander im Ge­schirrschrank, das zu wackligen Stapeln von Tellern, Tassen, Teeschalen führte und zu mehrstimmig blinkenden Mischungen von Gerät und Besteck. Paul
war sich nicht sicher, wie viel Besserung er brauchte oder ertrug. Vielleicht war es nur das Wort, das ihn beklommen machte. Es wies den davon Betroffenen in eine fahl beleuchtete Zukunft, ausgedehnt wie eine städtische Gleisanlage bei Nacht.
    Ich würde mich schon erinnern, schrie er eines Sonntagabends über den Tisch, gern und genau erinnern, jawohl, wenn es etwas zu erinnern gäbe, wenn etwas vorgekommen, vorgefallen wäre. Aber was, bitte, ist da schon gewesen? Gar nichts!
    Das war nicht klug von ihm. Das klang hilflos. Das liess einen Rückfall vermuten. Es war nebensächlich, gewiss, wie ein einzelnes, zufällig verwackeltes Foto von ihm, aber es weckte Bedenken.
    Immerhin weiss ich noch, sagte Paul, dass nachts alle Katzen schwarz sind, dass eine Taube auf dem Dach besser ist – oder umgekehrt.
    Paul dachte sich Erinnerungsstücke aus, mit denen er vor der besorgten Familie besser bestehen konnte. Stücke, die ihn inwendig ergänzten, auspolsterten, seinem Seelenfleisch Gewicht hinzufügten.
    Es musste eine Zeit gegeben haben, da hatte er nur noch liegen und sitzen können. Da hatte er gekaut, was man ihm in den Mund schob. Sich aufrichten aber, sich aufrecken, das kam erst später, nach einem langen, freundlich begleiteten Training. Zu seiner eigenen grossen Verwunderung ging eines Vormittags ein Ruck durch seinen Körper. Er streckte sich, die Waden spannten, das Becken fand seinen Platz, die Wirbelsäule wurde spürbar zur Säule hinauf zum Nacken und höher, höher – und schon blieb der Boden weit unter ihm zurück. Er streckte sich, und schlagartig sank vor seinem Blick der Horizont. Was sich über dem Scheitel befand, das bodenlose Gewölbe, musste damals noch ganz und gar Ausland gewesen sein. Paul geriet in einen Schwindel,

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