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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon Verlag
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grosse Wohltat.
    Als Kavalier kam Paul hier zu spät. Die Herrin trug längst die Haube der Ehefrauen. Das Mädchen mit den Seifenblasen war ihr erstes Kind. Sie erwartete ein zweites.
    Wagner, der Leiter des Aufsichtsdienstes, der, wie sich später herausstellte, Wegmann hiess, nickte ihm kurz zu, wenn sie sich begegneten. Er schien ihn für ein Mitglied seines Teams zu halten. Jedenfalls schaute er erstaunt, als Paul sich um eine Stelle in seinem Dienst bewarb.
    Haben wir Ihre Personalien?, fragte Wegmann und kaute am Nagel seines kleinen Fingers oder an einem der Hautfetzen, die den verwüsteten Nagel umgaben. Paul dachte dabei an ein überweidetes Gelände. Ermattete Rinder stolperten in einer zertretenen Talsenke herum. Paul hatte die Tiere so dicht vor den Augen, dass er ihr abgewetztes staubgraues Fell
sah.
    Wir haben zwar viele Bewerber, gab Wegmann zu bedenken.
    Paul nickte: Ich weiss.
    Studentinnen und Studenten –
    Der Kunstgeschichte, ergänzte Paul.
    Wegmann nickte.
    Sie einigten sich, dass Paul mit einer 40 %-Stelle anfangen würde. Alles Weitere –, sagte Wegmann,
    Und Paul: – ergibt sich von selbst.
    Am folgenden Dienstagmorgen begann er im Sektor 4, der bescheidene nordseitige Kabinette umfasste. Die meisten Besucher, die durch den schmalen Zugang in diese Räume fanden, waren streunend hierher geraten. Sie schauten sich um, als hätten sie sich verlaufen, stellten sich dann aber doch vor eines der Gemälde. Wandten sich die Zufallsbesucher einem zweiten Bild zu, bevor sie den Raum verliessen, geschah es vermutlich aus Anstand.
    Die Blicke der Betrachter nahmen bestimmte Wege: Sie streiften über eine Malerei und steuerten das zugehörige Schild an. Dann erst wandten sie sich dem Werk ausdrücklich zu oder sie gingen weiter. Die Schilder, die sich auf frei stehende Skulpturen bezogen, waren oft schwer zu finden.
    Paul gab ratlosen Besuchern unaufdringliche Fingerzeige. Die Namen bekannter Künstler luden zu genauerem Hinschauen ein. Der Name konnte das Bild verschönern. Auch der Titel konnte belebend sein: „Hirt und Hirtin in der Campagna“. Die genannten Personen und die Landschaft waren auf der Leinwand anzutreffen. Die Hinweise rückten die Teile zurecht, sie festigten das Bild. Man brauchte nicht zu wissen, wo die Campagna liegt. Irgendwo in Italien, irgendwo auf dem Land. Namen beglaubigten auch, dass es das Abgebildete so oder sehr ähnlich wirklich gegeben hatte und vielleicht immer noch gab. „Das Dorf Gazzada“ etwa.
    Pauls Tätigkeit glich seinen Wanderungen durch die stadtnahen Wälder. Gehen und Stehen fanden in den Museumsräumen zu ihrer reinsten Form. Im grossen Oberlichtsaal kam der aufrechte Gang ganz zu sich selbst. Viele der hier abgebildeten Menschen hatten Lebensgrösse oder wuchsen im Betrachten zu solcher Grösse heran und darüber hinaus.
    Ein Jüngling von Lembruck, bescheiden und riesig, schien aus einer besseren Welt zu kommen. So einer konnte nur besuchsweise da sein.
    Paul grüsste zwei porträtierte Kinder, die stämmige kleine Erdmute und ihren kadettenhaft gekleideten älteren Bruder Hans-Herbert. Erdmute trug für das Bild ihr weissestes Kleid. Es musste ihr vom Dienstmädchen übergezogen worden sein. In schwarze Lackschuhe gestellt und mit einer Haarschleife versehen stand sie da, bereit, den Anordnungen des berühmten Malers Eduard Munch zu gehorchen. Der Mann sprach deutsch, sagte aber fast nichts. Erdmute hob ihr Kleid mit der rechten Hand etwas an, den linken Ellenbogen überliess sie dem Bruder, der hier mit seiner Hand eine Verbindung zur Schwester herstellen musste.
    Als Erdmute das weisse Kleid bekam, wollte sie mit
dem Bruder Hochzeit spielen. Er wollte nicht. Doch er war bereit, die Schwester zu verschleppen, wie er sagte. Sie wusste nicht, was das Wort bedeutete, doch es gefiel ihr. Zudem war es nicht leicht auszusprechen. Das „Verschleppen“ ging so: Hans-Herbert
trug seine Schwester leise, leise huckepack über die Treppe hinab in die Halle. Für ein richtiges Verschleppen hätte er sie auf den Armen tragen müssen. Doch auf diese Weise wäre der Transport vor allem auf der Treppe zu schwierig geworden. Aus der Küche kam die Stimme der Mutter, die der Köchin Anweisungen gab und dann wie gewöhnlich ins Plaudern geriet. Einmal lachten die beiden Frauen hell auf. Dass sie rasch wieder verstummten, geschah aus Respekt vor der

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