Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon Verlag
Vom Netzwerk:
Stoppeln. Wieder liefen Kinder vor ihm her, wieder mit blau und beige bedeckten Köpfen. Es schienen dieselben zu sein, denen er vor Tagen zugeschaut hatte, doch er konnte sich täuschen. Eine der Betreuerinnen, eine hübsche dunkelhäutige, sah er zum ersten Mal. Sie lief auf einen Baum zu und versteckte sich hinter dem Stamm. Die Kollegin fragte die Kinder:
Wo ist Fatima geblieben?, und schaute voraus den Weg entlang. Dann hielt sie ein Handy ans Ohr.
    Fatima!, schrien die Kinder im Chor. Sie liefen gleichzeitig los und entdeckten die Vermisste und kreischten vor Lust. Alle schienen die Spiele zu kennen, die hier im Freien üblich waren, und freuten sich, den Regeln zu entsprechen.
    Ein Mädchen hatte einen Schuh verloren. Es schaute mit geknicktem Kopf auf seine ungleichen Füsse. Die dunkelhäutige Betreuerin nahm das Kind bei der Hand. Es humpelte neben ihr zum Schuh hin, der ein paar Schritte zurück auf dem Weg lag.
    Die dritte Betreuerin schaute lange schon blicklos ans andere Ufer.
    Man kann vom Leben keine Pause machen, dachte Paul. Man versucht’s und wird dabei erwischt. Man merkt, wie nackt man ist unter seinen Kleidern.
    Drei Regentage später sah er über der Rückenlehne einer Bank ein dünnes Tuch, von der Nässe stellenweise ans grüne Holz geklebt. Paul kannte das bleiche Blau. Es kam ihm vor, als sei nicht ein Kopftuch, sondern ein Mädchen vergessen worden.
    Wenn Paul im Museum etwas vermisste, war es das Wetter, das hier ganz ausgesperrt blieb. Dargestellt fand es sich aber auf zahllosen Bildern. Cumuluswolken dienten als Tummelplatz, Rummelplatz für kleine Engel, Gewitterwolken als Kulissen für schicksalhafte Augenblicke wie den Schwur der Eidgenossen. Als es den Holländern einfiel, ihre Landschaften und Meere abzubilden, stellte sich die Frage, was sie mit dem übergrossen Himmel anfangen sollten. Wolkentürme, Wolkenschleier, Wolkenfahnen, Wolkenkissen waren die überzeugende Antwort.
    Bei den Franzosen wurde die Luft leibhaftig, das Licht leibhaftig, Spiegelungen auf Wasserflächen, auf Seerosenteichen, wo die Wolken sich mit den Wellen,
die Wellen sich mit den Wolken verwechselten.
    Von vielen Werken nahm Paul keine Notiz. Wurde er aufmerksam auf ein bisher unbeachtetes Objekt, war er meist verwundert, dass es in der Sammlung überhaupt vorkam.
    Nach und nach ergab sich ein besonderer Blick für Ausstellungsgegenstände, mit denen er nichts anzufangen wusste. Giovanni Battista Pittonis „Geburt Christi“ gehörte dazu. Der Vertrag „Wir brauchen einander nicht“, den er mit solchen Gegenständen abgeschlossen hatte, verband ihn fast geschwisterlich mit ihnen. Und wenn er einen dann doch für sich entdeckte, was nicht selten vorkam, war es auch ein Verlust.
    Im Museum merkte er, dass seinem Gedächtnis neue Felder zugewachsen waren. Der Behälter seines Kopfes fasste weit mehr, als er angenommen hatte. Da war jener kleine Garten von Hendrick van der Burgh, geschützt von einer Ziegelmauer, mit der schmalen hohen Pforte zur Strasse hin. Die an Spalieren gezogenen Rosen. Die Magd mit stumpfem Bürstenbesen und, von der offenen Gartenpforte eingerahmt, das Mädchen, das Seifenblasen bläst. Pauls Erinnerung ging unbekümmert über den Bildrand hinaus, um die Ecke, in den rückwärtigen Hof des Bürgerhauses, wo es nach Hühnermist roch, nach holländischem Kleinstadtleben, nach Sechzehnhundert und etwas. Paul meinte den Ort zu kennen.
    Die hintere Tür zum Hausgang hatte die übliche Klinke mit grob geschmiedetem Griff. Die Küchentür links stand offen. Paul kannte jedes Regal, jeden Topf, jede Kelle. Im angrenzenden Wohnraum dann die hohen Fenster, die zur Strasse gingen. Man gab auf seinen Degen acht, wenn man sich auf einen der Stühle setzte. Man fragte sich, ob im Kamin noch etwas vom aufgestapelten knorrigen Holz nachzulegen sei. Man liess den Degen auf dem Stuhl zurück, zog auch die Stiefel aus, bevor man ins hintere Zimmer trat. Hohe Fenster auch hier, die untere Hälfte
mit geschlossenen Läden. Ein Schutz vor Blicken und vor Strassenstaub und Klecksen von Morast. Von
oben fiel überraschend ein Licht auf ein Buch, das
auf einem Polster lag. Die schweren Vorhänge des Bettgehäuses waren im Dunkeln zu erkennen. Der mit einem teuren Tuch bedeckte kleine Tisch, darauf der Kerzenhalter mit der Kerze, standen schon im tiefen Schatten. Die Dunkelheit war eine

Weitere Kostenlose Bücher