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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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Lärmempfindlichkeit des Hausherrn, der sich oben im Büro über weit ausgebreitete Pläne beugte. Leise, leise stopfte der Junge seine Schwester, die nur die Augen rollte, unten in den grossen Schrank und drehte den Schlüssel. Erdmute richtete sich zwischen den Schirmen, Pelerinen und Lodenmänteln wohnlich ein. Sie sorgte dafür, dass sie auch für jene, denen es
etwa einfiel, den Schrank zu öffnen, verborgen blieb. Sie wollte hören, wie man nach ihr fragte, wie man dann ihren Namen rief. Ihr grösster Wunsch, ihr Wunschwunsch war, im Dunkel dieses Schrankes tatsächlich
und leibhaftig und für immer zu verschwinden. So komplett, dass auch sie selbst, Erdmute, sich nur nach langem Suchen wieder finden würde – dann aber ganz anderswo.
    Doch so weit kam es nie. Nach einer Weile, während
man das Mädchen im Garten suchte, holte Hans-­Herbert
die Schwester aus ihrem Versteck und das Leben ging weiter.
    Erinnerungen kamen so mühelos von irgendwoher, wie sie einen wieder verliessen. Das stellte Paul fest, als ihm auf seinem Rundgang ein Bild in den Blick geriet: Ausgelassene Kinder, betreut von einem Faun. Ein schlafender Junge auf dem Rücken eines pantherartigen Tieres. Beim Anblick der nackten Leiber in der
parkähnlichen Wildnis fiel ihm Tarzan ein, Tarzan und seine Frau oder Freundin. Gehörte der Name Jane
zu dieser Person? Bei den Erinnerungen gab es verschiedene Aggregatszustände, ergänzte Paul seine Gedanken, neben den flüchtigen und flüssigen auch feste, verknorpelte oder verhornte. Zu dieser dritten Sorte gehörte die für Museumsbesuche gültige Haus­ordnung.
    Paul wusste, was in den Ausstellungsräumen zulässig war, und fand auch Wege, die Weisungen taktvoll durchzusetzen. Er überraschte eine junge Frau, wie sie eben mit einem angebissenen Sandwich auf eine Lucretia zeigte, die drauf und dran war, sich einen Dolch in die entblösste Brust zu stossen. Paul ermahnte die junge Frau, indem er dabei auch ihre Begleiterin ins Auge fasste: Essen und Trinken sind nur im Museumscafé erlaubt. Die junge Frau lächelte munter. Sie hielt Paul ihr Sandwich so übermütig und dicht vor den Mund, dass er hinein biss. Noch kauend sagte er: Jetzt aber lassen Sie das Ding verschwinden.
    Wohin?, fragte sie.
    Paul zeigte auf die Anhängetasche der Begleiterin.
Er bot den Frauen von seinen Papiertaschentüchern an, in die sie, was vom Sandwich übrig blieb, einwickelten.
    Einmal stapften drei Bauern mit vorgereckten Köpfen herein. Paul kannte sie am Gang, den Gliedern, den schwer in den kurzen Ärmeln hängenden Händen. Ein Vierter, vermutlich der Dorflehrer, ging ihnen voran. Er nannte Namen von Künstlern, wies auf Kollers „Gotthardpost“. Die Bauern freuten sich, die Welt ihrer Vorfahren in Öl gemalt zu entdecken. Die „Kuh im Krautgarten“ bereitete ihnen ein unbändiges
Vergnügen. Dann aber kehrte ein Ausdruck in ihre Gesichter zurück, der sehr viel länger erprobt war: ein Misstrauen, das nicht einzelnen Bildern galt, eher der Kunst überhaupt oder dem Fremden, das einen im Museum umgab, der Andacht, dem hier üblichen Flüstern der Besucher. Die nackten Frauen, ohnehin zu dick, hatten keine Wirkung. Im Fernsehen sah
man da ganz andere Sachen. Ihre Väter hätten noch mit Zeigefingern, die sich nicht mehr vollständig strecken liessen, auf das bleiche und rötliche Fleisch gezeigt.
    Es gab regelmässige Besucher. Eine Frau etwa in unbestimmt wallendem Kleid, für die jedes Bild ein Anlass zu immer neuem Nachdenken war. Paul begann zu vermuten, die Frau sei eine gewohnheitsmässige Nachdenkerin. Er versuchte sich vorzustellen, was sich ergäbe, wenn er selbst nachdächte über alles, Stück für Stück, was gerahmt an der Wand hing oder auf einem Sockel stand. Diesen Versuch gab er wieder
auf, bevor ein Ergebnis in Sicht war.
    Lange war die Nachdenkerin vor einem Gemälde von Füssli gestanden: eine sitzende Frau, den Kopf auf die angezogenen Knie gesenkt, verhüllt in lange Haare und eingerahmt von Armen, die zu Boden hingen, als würden sie nicht so bald wieder gebraucht. Der Titel „Das Schweigen“ schien die Betrachterin nicht abzulenken, setzte vielleicht ihr Sinnen erst recht in Bewegung.
    Paul kehrte, wenn der Aufsichtsplan es zuliess, zu van der Burghs bescheidenem Garten mit dem Rosenspalier zurück, zur Magd mit dem Kind. Bei
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