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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon Verlag
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übertrieben. Man konnte sagen, was man wollte, alles hatte etwas Übertriebenes. Das Flüssige, Flüchtige, Zappelnde staute oder stiess sich an den reglosen Wörtern.
    Die Bäume übertrieben nicht. Als Gesellschaft machten sie unter sich aus, wie viel Wurzelraum und wie viel Himmel jedem Einzelnen zustand. Wurden Bäume gefällt, kamen unter den Verbleibenden und den Nachwachsenden neue Regeln ins Spiel.
    Hinter den gestreckten Stämmen junger Tannen hüpften zwei Männer auf geländegängigen Rädern heran. Geländegängig war auch ihre wasserdichte, mit Schutzpolstern versehene Kleidung. Paul kam den Fahrern fast in die Quere, als sie dicht vor ihm mit schlingerndem Hinterrad in die Kurve gingen. Sie sahen aus, als wären sie auf alles gefasst. Jeder Sturz konnte zum Absturz werden.
    Da und dort im Unterholz gab es Einnistungen von Licht. Dürres Laub, Halme, Stücke von brüchigem Holz in einer Art Ordnung. Die Dinge schienen sorgfältig zusammengetragen zu sein. Paul schaute so lange hin, bis die leuchtenden Flecke etwas Unauslöschliches angenommen hatten. Was ihn hier festhielt, war wohl einfach die Wirklichkeit dieser Dinge, frei von allem, was Menschen umtreiben konnte.
    Paul war nicht schwindelfrei, wenn es wunderbar
zuging. Er dachte an die geheimen Netzwerke des Zufalls. Er dachte an die vielfältigen Zwischenräume, die wohl darum so anspruchslos blieben, weil sie nicht mit Namen versehen waren.
    Paul folgte einem Pfad, den er zu kennen meinte. Dann aber kam er an einer alten Kiesgrube vorbei, die sich hier am falschen Ort befand, die ganz woanders hingehörte. Paul kannte die Topografie des Waldes wie seinen Hosensack, und darauf wollte er sich weiterhin verlassen können. Er überprüfte: im rechten Sack das schlanke französische Jagdmesser und der Einkaufszettel von gestern, im linken ein Ring mit zwei Schlüsseln und das Taschentuch.
    Beruhigt ging er weiter. Er war nicht überrascht, als auch im Wald alles wieder zurechtgerückt war, dass er also mit sich und mit den Örtlichkeiten wieder
rechnen konnte.
    Paul sass an seinem Arbeitstisch und blätterte in einem Ausstellungskatalog mit Zeichnungen von Busch­männern, die um 1870 von weissen Siedlern als Tagelöhner beschäftigt wurden. Es waren Skizzen von Naturgegenständen, wild wachsende Sträucher mit ihren Früchten und vereinzelt auch Tiere, auf ein paar Merkmale reduziert. Von Sprachforschern befragt, erzählten die Männer mit ungeheuerlichen Abschweifungen von ihrem Alltag. Die Forscher behalfen sich mit besonderen Zeichen, um die vielen Schnalz- und Klicklaute, die sie hörten, zu notieren. Auf die Skizzen­blätter schrieben sie knappe Anmerkungen: !kannu ≠hu : „Ein kleiner Vogel, der manchmal beisst, wenn er gefangen wird“. !kui !nu : „Das Ei der !kui , das ziemlich gross ist und von heller Farbe. Es wird von alten Menschen beiderlei Geschlechts gegessen“.
    Auf einer zeitgenössischen Fotografie war die topf­ebene Strauchwüste des nordwestlichen Kaplands zu sehen. Paul versuchte sich vorzustellen, wie die Eingeborenen sich in diesem Gelände zurechtgefunden hatten. Als Orientierungshilfen gab es ausgetrocknete Wasserläufe, markante Steine, Termitenbauten, vielfach verzweigte Trampelpfade und tausenderlei Unvorstellbares. Die Ebene glich einer abgenützten Bürste. Pauls Blick ging hinaus zu einem kaum mehr erkennbaren Horizont und kehrte lange nicht zurück. Das Buch enthielt Tagtraummaterial für ein ganzes Leben und für alles, was über ein Leben hinaus wuchs und wucherte.
    An die Vertreibung der Buschmänner und -frauen mochte er jetzt nicht denken. Dann dachte er doch: Weisse Bauern verprügelten die Eingeborenen, die ihnen hinderlich waren, oder knallten sie ab.
    Die Entwürfe und Unterlagen zu alten Arbeiten lagen immer noch auf dem Tisch, auf Stapel verteilt, deren Bedeutung Paul inzwischen nicht mehr zugänglich war. Der Bürostuhl, den er im Rücken spürte, war ein Geburtstagsgeschenk von Marion gewesen. Der Sessel machte das Sitzen, wenn man es richtig bedachte, tatsächlich zum Erlebnis.
    Eine Auffrischung der Wohnung war im Gang. Marion hatte neue Möbel angeschafft, zuerst Stück
um Stück, dann aber folgten mit einem grossen Esstisch gleich sechs passende Stühle. Die Vorhänge wollte Marion durch Rouleaus ersetzen. Toms Herbstblätter hingen nicht

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