Nicht schwindelfrei - Roman
mehr am Kühlschrank.
Durch das Fenster betrachtete Paul die vielfach gestufte Horizontlinie der Dächer der benachbarten Häuser, der Firste, Mansarden und Terrassen. Er verweilte bei dieser Linie wie bei einem Schriftzug.
Marions Geschäft lief gut. Fast schien es ihr davon zu laufen. Viele ihrer Kunden waren ältere Paare, die noch einmal etwas erleben wollten. Marions individuelle Reiseberatung galt als Geheimtipp, den diese älteren Paare untereinander weiter gaben. Von Mund zu Mund, sagte Marion und betrachtete dabei ihre ausgestreckten, aus dem Rock vorragenden Zwillingsbeine. Das geschah in der Küche bei einem sonntäglichen Apéro. Paul stellte sich die älteren Münder mit den gepflegten Gebissen vor, die anderen älteren Mündern Marions Namen übermittelten.
Am Abend zuvor hatte Paul seine Frau mit einem Blumenstrauss überrascht. Die meisten Männer kommen auf Blumensträusse, sagte Marion, wenn sie ihre Frauen überraschen wollen. Dass aber auch du auf diese Idee kommst, das überrascht mich schon. Blumensträusse sind schön und lästig. Die Stiele zurückschneiden, eine passende Vase suchen, das Wasser wechseln, und nach vier Tagen ist das Ganze dann doch verwelkt. Das Wasser stinkt, die Stiele sind schmierig geworden. Man denkt, man hätte die Blumen besser pflegen sollen, auch das noch.
Marion erzählte: Einmal, bei einem Geburtstagsessen in einem Restaurant, überreichte man mir einen üppigen Strauss. Das war, bevor ich dich kannte. Während dem Apéro hielt ich den Strauss in der Hand. Als wir uns zu Tisch setzten, bat ich um eine Vase. Das
Ding, das die Kellnerin brachte, war sehr hässlich und etwas zu eng. Nach dem Essen gingen wir in eine Bar über der Strasse, dann in eine zweite, immer mit diesen Blumen. Die Musik war so laut, dass wir uns anschrien oder verstummten. Und als ich um eins nach Hause kam, heulte ich vor Müdigkeit und steckte die Blumen Kopf voran in den Abfalleimer.
Fürchterlich, sagte Paul.
Marion nickte heftig.
Die beiden hatten sich auf dem âAbendsofaâ zusammengefunden. Tatsächlich benützten sie das Möbel ausschliesslich an Abenden und immer zu zweit. Durch die ganzen langen Vor- und Nachmittage stand es, auf Besucher gefasst, an der Wand. Da Paul die Stube kaum mehr alleine betrat, hatte er keinen Anlass, den Anblick des leeren Sofas befremdlich oder betrüblich zu finden.
Wo ist eigentlich Tom?, erkundigte er sich.
Auf einer Radtour im Französischen Jura, sagte Marion geduldig, das weiÃt du doch. Hätte sie gesagt: Das solltest du doch wissen, wäre Paul nervös geworden. Natürlich weiss ich das, hätte er behauptet, ich denke nur nicht daran. Sie hätten hin und her geredet, immer abwechslungsweise, und allmählich wären sie verunglückt. Er hätte geschrien wie ein Elch und sie hätte die Stube, die jetzt Wohnzimmer hiess, heulend verlassen, wäre aber bald darauf mit zugespitzter Stimme zurückgekehrt.
Paul war verwundert: Auf einer Radtour also.
Er spürte Marions Hüfte. Sie war näher gerückt.
Wir lieben einander, nicht wahr?, vergewisserte er sich.
Marion lächelte mit den Augen und nickte. Dann sagte sie ernst: Und wie!
Paul fuhr mit feuchtem Mund auf ihre Lippen los.
Sie erschrak.
Er erschrak auch. Pourquoi pas?, sagte er dann und merkte sofort, dass das nicht das Richtige gewesen
war.
Pauls Gedächtnis machte weiterhin Kapriolen. Da Marion nie recht wusste, was Paul behielt und was er vergass, kündigte sie ihren Geburtstag am Vorabend an. So brauchte er sich nicht zu schämen, falls der Termin ihm entfallen war.
Morgen habe ich Dienst bis zwanzig Uhr, sagte Paul. Nachher können wir feiern.
Dienst, Dienst, murrte Marion.
Paul sagte: Du machst dir ja gar keinen Begriff, wie weitläufig das ist. Wie viele Einzelheiten wir im Auge haben. Heute wollte einer, der direkt aus dem Regen kam, in einer tropfenden Plastikhülle schnurstracks in den ersten besten Saal. Wir machen den Besuchern klar, dass Regenbekleidungen, Regenschirme und so weiter, dass grosse Gepäckstücke, auch Musikinstrumente, Kinderspielzeuge mit spitzen Ecken oder Kanten, in einem Schliessfach zu deponieren sind oder an der Garderobe abgegeben werden müssen. Handtaschen sind zugelassen, sofern sie in der Längs- und Querrichtung nicht mehr als 20 Zentimeter vom Körper abstehen. Fotografieren ist nur in der Sammlung und
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