Nicht schwindelfrei - Roman
anderswo. Paul glaubte zu wissen, dass Goethe stets ein frisches weisses Hemd getragen hatte, das schon am Tag darauf mit dem gestrigen, vorgestrigen an einer Leine flatterte. Eintagshemden, die nun mit den Ãrmeln schlenkerten, bald so, bald so, bald gar nicht.
Paul sah eine Frau, die unten quer durch den Raum ging und dann stehen blieb, um sich nach den dunkelgrünen Landschaftsstücken umzuwenden. Zum dauerhaften Grün von Steineiche und Buchs kam nun ihr lichtweisses Kleid. Der Mann, der wohl ihr Begleiter war, beugte sich über das Geländer des mezzaninartig offenen Stockwerks wie über die Reling eines Schiffes. Ein Ausflügler, dachte Paul. Die Besucherin, das merkte Paul an einer plötzlichen Liebe, einer ganz ungewohnten Liebeslast, war Claire.
Was soll ich tun?, fragte Paul leise. Was soll ich jetzt tun?, fragte er noch einmal. Er stand, befallen von einem Gefühl, das schon fast kein Gefühl mehr war, eher bloss ein andauerndes Befallenwerden.
Claires Begleiter sah aus wie Viktor. Von hinten und dann auch von der Seite glich er ihm so sehr, wie einer nur sich selbst gleichen konnte. Sein sandfarbener Anzug allerdings war ungewöhnlich, mit Rockschössen wie zum Flattern gemacht.
Was soll ich tun?, fragte Paul, fragte sein Echo. Paul konnte nicht damit rechnen, dass er die Frau auch diesmal wieder vergass.
Jürg Schubiger
© Foto: Haymon Verlag
Zum Autor
Jürg Schubiger, geboren 1936, lebt als Schriftsteller in Zürich. Studium der Germanistik, Psychologie und Philosophie. Tätigkeit im pädagogischen Verlag seiner Familie, dann als Psychologe in eigener Praxis. Seine Bücher für Kinder und Erwachsene wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis. Bei Haymon erschienen seine Romane Haller und Helen (2002, ausgez. mit dem ZKB-Schillerpreis) und Die kleine Liebe (2008, ausgez. mit dem Zolliker Kulturpreis).
© 2014
HAYMO N verlag
Innsbruck-Wien
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ISBN 978-3-7099-3555-2
Umschlag- und Buchgestaltung, Satz: hÅretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
Umschlagabbildung: Wikipedia (Von Anker bis Zünd. Die Kunst im jungen Bundesstaat 1848â1900. Kunsthaus Zürich, 1998.); Schatten: photocase.com / skaisbon; Boden: shutterstock.com / Mark Aplet; Bilderrahmen: creative collection
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