Nicht so laut vor Jericho
Wir haben den Erreger dieser neuen Sommerkrankheit noch nicht entdeckt – aber es besteht größte Infektionsgefahr. Besonders wenn viele Kinder beisammen sind.«
Das war die Entscheidung. Das war die Erlösung. Zu Hause angelangt, machten wir Amir sofort mit der Sachlage vertraut:
»Du hast Glück, Amirlein. Der Onkel Doktor erlaubt nicht, daß du in den Kindergarten gehst, weil du dir dort alle möglichen Krankheiten holen könntest. Die Bazillen schwirren nur so in der Luft herum. Das war’s. Den Kindergarten sind wir los.«
Seither gibt es mit Amir keine Schwierigkeiten mehr. Er sitzt den ganzen Tag im Kindergarten und wartet auf die Bazillen. Und er würde um keinen Preis auch nur eine Minute früher nach Hause gehen, als er muß.
Wenn unsere Nachbarn uns fragen, wie wir das zustande gebracht haben, antworten wir mit undurchdringlichem Lächeln:
»Durch medizinische Methoden.«
Das Fernsehen als moralische Anstalt
Wie zu erwarten, hat sich Amirs Einstellung zum Fernsehen erheblich geändert, seit wir zuletzt in diesem Zusammenhang von ihm berichtet haben. Heute ist der regsame Knabe ohne weiteres bereit, jeden, der sich zwischen ihn und den Bildschirm stellt, niederzumachen. Voraussichtlich wird er auch seine Eltern liquidieren, wenn er erst einmal groß genug ist, um die Türklinke zu erreichen.
»Wunder dauern höchstens eine Woche«, heißt es im Buche Genesis. Wie wahr!
Nehmen wir zum Beispiel das Fernsehen: Während der ersten Wochen waren wir völlig in seinem Bann und saßen allnächtlich vor dem neu erworbenen Gerät, bis die letzte Versuchsstation im hintersten Winkel des Vorderen Orients ihr letztes Versuchsprogramm abgeschlossen hatte. So halten wir’s noch immer – aber von »gebannt« kann keine Rede mehr sein. Eigentlich benützen wir den Apparat nur deshalb, weil unser Haus auf einem freiliegenden Hügel steht; und das bedeutet guten Empfang von allen Seiten.
Dieser Spielart des technischen Fortschritts ist auch Amir zum Opfer gefallen. Es drückt uns das Herz ab, ihn zu beobachten, wie er fasziniert auf die Mattscheibe starrt, selbst wenn dort eine Stunde lang nichts andres geboten wird als das Inserat »Pause« oder »Israelische Television«. Etwaigen Hinweisen auf sein sinnloses Verhalten begegnet er mit einer ärgerlichen Handbewegung und einem scharfen »Psst!«
Nun ist es für einen Fünfjährigen nicht eben bekömmlich, Tag für Tag bis Mitternacht vor dem Fernsehkasten zu hocken und am nächsten Morgen auf allen Vieren in den Kindergarten zu kriechen. Und die Besorgnisse, die er uns damit verursachte, sind noch ganz gewaltig angewachsen, seit der Sender Zypern seine lehrreiche Serie ›Die Abenteuer des Engels‹ gestartet hat und unsern Sohn mit schöner Regelmäßigkeit darüber unterrichtet, wie man den perfekten Mord begeht. Amirs Zimmer muß seither hell erleuchtet sein, weil er sonst vor Angst nicht einschlafen kann. Andererseits kann er auch bei heller Beleuchtung nicht einschlafen, aber er schließt wenigstens die Augen – nur um sie sofort wieder aufzureißen, weil er Angst hat, daß gerade jetzt der perfekte Mörder erscheinen könnte.
»Genug!« entschied eines Abends mit ungewöhnlicher Energie die beste Ehefrau von allen. »Es ist acht Uhr. Marsch ins Bett mit dir!«
Der als Befehl getarnte Wunsch des Mutterherzens ging nicht in Erfüllung. Amir, ein Meister der Verzögerungstaktik, erfand eine neue Kombination von störrischem Schweigen und monströsem Gebrüll.
»Will nicht ins Bett!« röhrte er. »Will fernsehen. Will Fernsehen sehen!«
Seine Mutter versuchte ihn zu überzeugen, daß es dafür schon zu spät sei. Umsonst.
»Und du? Und Pappi? Für euch ist es nicht zu spät?«
»Wir sind Erwachsene.«
»Dann geht arbeiten!«
»Geh du zuerst schlafen!«
»Ich geh schlafen, wenn ihr auch schlafen geht.«
Mir schien der Augenblick gekommen, die väterliche Autorität ins Gespräch einzuschalten:
»Vielleicht hast du recht, mein Sohn. Wir werden jetzt alle schlafen gehen.«
Ich stellte den Apparat ab und veranstaltete gemeinsam mit meiner Frau ein demonstratives Gähnen und Räkeln. Dann begaben wir uns selbdritt in unsere Betten. Natürlich hatten wir nicht vergessen, daß Kairo um 8.15 Uhr ein französisches Lustspiel ausstrahlte. Wir schlichen auf Zehenspitzen ins Fernsehzimmer zurück und stellten den Apparat vorsichtig wieder an.
Wenige Sekunden später warf Amir seinen Schatten auf den Bildschirm:
»Pfui!« kreischte er in
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