Nicht so laut vor Jericho
Auskunft des Knaben.
Frau Lustig packte ihn an der Hand, zog ihn unter heftigen Vorwürfen in die entfernteste Zimmerecke und ließ ihn dort mit dem Gesicht zur Wand stehen.
»Wir sprechen nur ungern darüber.« Herr Lustig konnte dennoch nicht umhin, sein bekümmertes Vaterherz mit gedämpfter Stimme zu erleichtern: »Schragele ist ein ganz normales Kind – bis auf diese eine, merkwürdige Gewohnheit. Wenn er einen Schlüssel sieht, wird er von einem unwiderstehlichen Zwang befallen, ihn… Sie wissen schon… in die Muschel zu werfen und hinunterzuspülen. Nur Schlüssel, nichts anderes. Immer nur Schlüssel. Alle unsere Versuche, ihm das abzugewöhnen, sind erfolglos geblieben. Wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen. Freunde haben uns geraten, gar nichts zu unternehmen und das Kind einfach nicht zu beachten, dann würde es von selbst zur Vernunft kommen. Wir haben diesen Rat befolgt – mit dem Ergebnis, daß wir nach einiger Zeit keinen einzigen Schlüssel mehr im Haus hatten…«
»Komm einmal her, Schragele!« Ich rief den kleinen Tunichtgut zu mir. »Nun sag doch: warum wirfst du alle Schlüssel ins Klo?«
»Weiß nicht«, antwortete Schragele achselzuckend. »Macht mir Freude.«
Jetzt ergriff Frau Lustig das Wort:
»Wir haben sogar einen Psychiater konsultiert. Er verhörte Schragele zwei Stunden lang und bekam nichts aus ihm heraus. Dann fragte er uns, ob wir den Buben nicht vielleicht als Baby mit einem Schlüssel geschlagen hätten. Natürlich ein Blödsinn. Schon deshalb, weil ja ein Schlüssel für so etwas viel zu klein ist. Das sagten wir ihm auch. Er widersprach und es entwickelte sich eine ziemlich lebhafte Diskussion. Mittendrin hörten wir plötzlich die Wasserspülung… also was soll ich Ihnen viel erzählen: Schragele hatte uns eingesperrt, und erst als nach stundenlangem Telefonieren ein Schlosser kam, konnten wir wieder hinaus. Der Psychiater erlitt einen Nervenzusammenbruch und mußte einen Psychiater aufsuchen.«
In diesem Augenblick erklang abermals das ominöse Geräusch. Unsere Nachforschungen ergaben, daß der Schlüssel zum Hauseingang fehlte.
»Wie tief ist es bis in den Garten?« erkundigten sich die Lustigs.
»Höchstens anderthalb Meter«, antwortete ich.
Die Lustigs verließen uns durch das Fenster und versprachen, einen Schlosser zu schicken.
Nachdenklich ging ich auf mein Zimmer. Nach einer Weile stand ich plötzlich auf, versperrte die Tür von außen, nahm den Schlüssel und spülte ihn die Klosettmuschel hinab.
Die Sache hat etwas für sich. Macht mir Freude.
Die Kraftprobe
Während dieses Buch entstand, wurde unser Sohn Amir allmählich älter und größer – allen gegenteiligen Anzeichen zum Trotz. Er ist nun einmal ein trotziges Kind. Und davon handelt die folgende Geschichte.
Wenn Sie dieser Tage zufällig durch unsere Gegend kommen und auf der Straße zwei oder mehrere in hitzigem Gespräch begriffene Menschen sehen, können Sie jeden Betrag darauf wetten, daß über das derzeit wichtigste Thema gesprochen wird, nämlich: »Geht Amir Kishon in den Kindergarten oder nicht?«
Die Quote steht 3:1 für »nicht«.
Wir bekommen im Durchschnitt zehn Anrufe täglich, alle mit der Frage: »Bleibt er zu Hause?«
Amir bleibt.
Das war nicht immer so. Als wir ihn zum erstenmal in den Kindergarten brachten, schien er sich dort ungemein wohlzufühlen, fand sofort Anschluß an die anderen Rangen, tollte fröhlich mit ihnen umher, baute Plastikburgen und tanzte zu den Weisen einer Ziehharmonika. Aber schon am nächsten Morgen besann er sich auf sich selbst:
»Ich will nicht in den Kindergarten gehen«, plärrte er. »Bitte nicht! Pappi, Mammi, bitte keinen Kindergarten! Nein, nein, nein!«
Wir fragten ihn nach den Gründen des plötzlichen Umschwungs gestern hätte es ihm doch so gut gefallen, warum wollte er plötzlich nicht mehr, was ist denn los? Amir ließ sich auf keine Diskussion ein. Er wollte ganz einfach nicht, er weigerte sich, er war bereit, überall hinzugehen, nur nicht in den Kindergarten. Und da er in der Kunst des Heulens meisterhaft ausgebildet ist, setzte er auch diesmal seinen Willen durch.
Das Ehepaar Seelig bemängelte unverhohlen unsere Schwäche, und als wir Amir – der ja schließlich uns gehörte und nicht den Seeligs – in Schutz zu nehmen versuchten, bekamen wir’s mit Erna Seelig zu tun:
»Lauter Unfug«, keifte sie. »Man darf einem kleinen Kind nicht immer nachgeben. Man muß es vor vollendete Tatsachen stellen.
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