Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
gutbürgerliche Mittelschicht erreicht hat.
Am Anfang wusste ich noch nicht, wie schwierig und oft auch unangenehm dieses Vorhaben werden sollte. Durch das bewusste Wachrufen meiner Kindheit wurde ich vorübergehend noch mehr zum »Hartz-IV-Kind«, als ich es ohnehin schon war. Ständig glaubte ich, unser Leben verteidigen zu müssen. Ständig glaubte ich, mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich in Anspruch nehme, benachteiligt gewesen zu sein – und gleichzeitig wollte ich mich dafür entschuldigen, dass ich aufs Gymnasium gegangen bin. Das passte nicht ins Bild, anderen erschien es als widersprüchlich und unlogisch. Oder einfach als fremd. Eben das hat mich letztendlich darin bestärkt, weiterzuschreiben. Dabei habe ich nicht nur viele schöne Erinnerungen aus den Ecken meines Gedächtnisses hervorgeholt, sondern meinen Eltern und auch mir selbst viele unangenehme Fragen gestellt. Die Antworten haben uns nicht selten selbst überrascht, uns als Familie einander nähergebracht und mir sogar ein Stück Kindheit zurückgegeben.
Träumen erfordert viel Mut, wenn dir keiner Hoffnung macht. Und es ist so viel leichter, für Träume zu kämpfen, wenn du unterwegs Menschen triffst, die dich verstehen und an dich glauben, wenn du selbst noch zweifelst. Zum Glück habe ich immer wieder solche Menschen getroffen. Und ich möchte selbst eines Tages jemand sein, der andere ermutigt, nach ihren Träumen zu suchen und an sie zu glauben.
KAPITEL ZWEI
Eine Wohnung ohne Selbstbewusstsein
In dem es um die vier Wände geht, in denen ich groß geworden bin, die Trennung zwischen Wohn- und Schlaf- und Esszimmer etwas Unnatürliches ist und sich nach unserem Umzug bei mir eine innere Heimatlosigkeit einstellt.
Mein Name verrät bereits alles über mich: Undine . Ein Fabelwesen, das sich zwischen zwei Welten bewegt; oben die Welt der Menschen und unten, tief unter dem Meeresspiegel, eine Welt, die der menschlichen gleicht – nur haben ihre Bewohner keine Seele. Undinen sind in der Mythologie Wesen, die in ihrer eigenen Welt nicht glücklich und in der anderen nicht erlöst werden. Beide Welten hegen Vorurteile gegeneinander. Man beäugt sich kritisch und hält die eigene für die bessere.
In der oberen Sphäre, der Zivilisation der Mittelklasse, in der die normalen Menschen leben, wird Undine als ungezügeltes Naturwesen angesehen. Die Tischmanieren und Benimmregeln, den Smalltalk und den Elevator-Pitch – jenes Selbstmarketing in genau dem Zeitfenster, das der Fahrstuhl braucht, um von einem Stockwerk zum nächsten zu kommen – beherrscht sie nicht. Sie verkauft sich überhaupt nicht gerne.
Ich habe mich in meinen jungen Jahren oft wie eine dieser fremdelnden Undinen gefühlt. Undinen kommen in der Statistik des Studentenwerks, der PISA- und der OECD-Studie nicht vor. Sonst müsste wohl erwähnt werden, dass es für Fabelwesen immer schwieriger wird, soziale Unterschiede auszugleichen und Aufstiegschancen zu nutzen.
Es ist schwer, die Unterschiede sichtbar zu machen, die zwischen den beiden Welten existieren. So einfach, wie die zahllosen Sprichwörter es nahelegen – wer nicht will, der hat schon; wer zu faul ist, soll sich nicht beschweren; jeder ist seines Glückes Schmied –, so einfach ist es jedenfalls nicht. Nicht jeder hat die gleichen Werkzeuge zur Verfügung. Es gibt eine ganze Menge feiner Unterschiede, wie sie der französische Soziologe Pierre Bourdieu untersucht hat, und die fangen bei der Zimmeraufteilung der Wohnung an.
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Die meisten Wohnungen, die ich bei Freunden, Klassenkameraden und Bekannten gesehen habe, sind mit einem Schlafzimmer für die Eltern ausgestattet, in dem ein großer Einbauschrank aus hellem oder dunklem Holz steht, im Wohnzimmer befindet sich eine Couchgarnitur, ein weiterer Einbauschrank mit Vitrine für die Jubiläumsgeschenke des Arbeitgebers, darunter oder daneben der Fernseher, möglicherweise noch eine Essecke. Das Kinderzimmer verfügt – je nach Anzahl der Kinder – über Einzel- oder Doppelstockbett und Regalelemente für die Kuscheltiere und Barbies. Am Ende des Flurs findet sich gegebenenfalls das Arbeitszimmer von Mama oder Papa, in dem in der Zeit meiner Kindheit der einzige Computer der Familie stand. Dieses Zimmer war zwar meist voll mit ödem Papierkram, aber es lockte, weil es absolut tabu war, es zu betreten.
Bei meiner Mutter und mir gab es außer dem Bad und der Küche keine abgetrennten Funktionsräume. Es gab eigentlich nur mein Zimmer und Mamas
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