Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
»normal« scheint es für mich nicht zu geben. Als der Text endlich erschien, war meine Mutter am nervösesten. Doch die Reaktionen aus der Redaktion hätten nicht lobender und von den Lesern nicht anrührender sein können. Ich hatte einen Ton getroffen, mit dem beide Seiten – Beobachter und Betroffene – etwas anfangen konnten. Im folgenden Frühjahr 2012 stand ich, eine Anfängerin und Außenseiterin, plötzlich mit meinem ersten großen Text auf der Nominiertenliste für den Henri-Nannen-Preis, einen der bekanntesten Journalistenpreise in Deutschland. Ich fand es einfach nur skurril. Den Preis habe ich zwar nicht bekommen, aber, was für mich persönlich die wichtigere Auszeichnung war, einen Buchvertrag. Dann erst war ich sicher, ich hatte doch etwas zu erzählen.
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Ich bin mit 16 Jahren von zu Hause ausgezogen. Ich war unter den 38,5 Prozent der Studierenden, die den BAföG-Höchstsatz ohne weitere Nachfragen bekommen haben. In meiner Familie gab es kein Haus, kein Auto, keine Ersparnisse, die angerechnet werden konnten. Es gab nur Sozialhilfe, wie es damals noch hieß. Ich habe als Erste in meiner Familie ein Studium abgeschlossen und habe jetzt jede Menge Bildungsschulden. Statistisch gesehen bin ich mit dem Karrierefahrstuhl nach oben gefahren. Als Akademikerin Teil des ach-so-vielversprechenden Potentials der Nation, hochqualifiziert, mit einem guten, aber mittlerweile zum Aussterben verurteilten Magisterabschluss, vier Fremdsprachen und jeder Menge Erfahrung. Ich könnte sagen: Ich habe es geschafft!
Eigentlich sollte die Vergangenheit meiner Eltern jetzt keine Rolle mehr spielen. Meine Situation zeigt mir, dass die Realität anders aussieht. Gerade wenn es um die Zukunft geht, wird die Herkunft plötzlich wichtig. Ich habe nur das Versprechen der Chancengleichheit ernst genommen und versucht, im Berufsleben Fuß zu fassen. Ich werde, zu meiner Überraschung, als etwas Besonderes wahrgenommen. Dass ich über meine persönlichen Erfahrungen und meine Herkunft offen spreche, ist offensichtlich immer noch ungewöhnlich. Ich dachte, wir wären längst weiter.
Ich habe mich nie dafür geschämt, woher ich komme und wer ich bin. Ich habe nie versucht zu verstecken, dass meine Eltern geschieden sind, mein Vater Taxifahrer war und meine Mutter zu Hause blieb. Genauso wenig habe ich mich dafür geschämt, dass ich nach meinem Studienabschluss in einem Charlottenburger Café kellnerte statt im Akkord Bewerbungen zu schreiben. Da bekamen meine Kommilitonen ihre ersten – natürlich befristeten – Jobs, promovierten oder stellten ihren Antrag für Hartz IV. Ich wollte auf keinen Fall zum Jobcenter gehen. Ich war 29 und mit meinem monatlichen Kellner-Lohn war ich auf niemanden angewiesen, konnte die Miete für meine kleine Einzimmerwohnung bezahlen und endlich meinen Führerschein machen.
In meinem Café fühlte ich mich zu Hause. Meistens lehnte ich an dem dunklen Holztresen und wartete auf Gäste. Hinter meinem Rücken standen in den verspiegelten Regalen Biergläser, Sekttulpen, Kaffeetassen, süße Sirups, grüne und braune Likörflaschen, Aperitifs und amerikanische wie schottische Whiskys, die ich endlich zu unterscheiden gelernt hatte. Das Herzstück des wohnzimmergroßen Raumes war die Kaffeemaschine, rechts hinter dem Tresen, mein treuer Begleiter durch den Tag. Ich hatte alles, was ich brauchte: eine Arbeit, die mir leicht von der Hand ging, meinen Latte macchiato, ein Sandwich und meine Lieblingsgäste. Alles Wissen, das keinen praktischen Gebrauchswert hatte, war hier überflüssig. Das gefiel mir.
Das Café ist eins dieser alten Westberliner Cafés zwischen dem bohemienhaften Savignyplatz und der rummeligen Fußgängerzone Wilmersdorfer Straße. Seit der jetzige Chef die ehemalige Studentenklause vor fünfzehn Jahren übernahm, haben sich im Gastraum nur Kleinigkeiten verändert. Ein neuer Kleiderhaken, nach zehn Jahren eine Uhr, neue Klodeckel.
Die meisten Gäste sind Stammgäste: Kiezkönige, Journalisten, Künstler, Arbeitslose, Makler und pensionierte Lehrer mit ihren Schoßhunden. Sie kommen fast jeden Tag, sitzen ein paar Stunden an den kleinen runden Holztischen, am liebsten neben der halbvertrockneten Topfpflanze an der großen Fensterfront und trinken immer den gleichen Kaffee.
Im Sommer trugen wir die kleinen Tische mit den eingebrannten Blumenmustern und den gusseisernen Tischbeinen nach draußen. Jedes Frühjahr kam jemand und wollte sie kaufen. Ich servierte lächelnd weiße
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