Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Milchschaumberge, garniert mit schlagfertigen Kommentaren, und fühlte mich selbst wie eine kleine Kiezgröße in meinem Quartier. Andererseits war es angenehm, dass dort niemand wusste, wer ich bin, was ich studiert hatte, wovon ich träumte und was ich bisher gesehen hatte. Es war nicht wichtig. Wichtig war nur der Milchschaum.
An einem Sommertag saß plötzlich eine ehemalige Vorgesetzte aus der Literaturbranche in einem der Korbstühle. Bei ihr hatte ich als Schwedisch-Studentin ein Praktikum gemacht und später in ihrem Büro ausgeholfen. Danach waren wir uns nur noch einmal bei einem Empfang in den nordischen Botschaften begegnet. Meine Pläne, in der Literaturbranche zu arbeiten, hatten sich seit diesem Treffen in Luft aufgelöst. Ich hatte zwar entsprechende Praktika absolviert und auch gute Zeugnisse bekommen, aber kein Jobangebot.
»Guten Tag, haben Sie schon einen Wunsch?« Ich reichte ihr die kleine gelbe Karte, die ich eigenhändig für das Café gestaltet hatte.
»Was machst du denn hier?« Sie schaute mich überrascht an.
»Na, ich arbeite hier«, sagte ich und setzte mein souveränes, breites Kellnerlächeln auf. In Wahrheit aber fiel es mir in diesem Moment schwer, Haltung zu bewahren und einen lockeren Witz zu machen. Da gab es dieses Abschätzige in ihrem Blick, mit dem alle brotlosen Geisteswissenschaftler bedacht werden. Ein Blick, der fragt: Hast du dafür studiert? Für einen Job als Kellnerin? War es das schon für dich?
»Du bist das einzig Vernünftige, das wir hingekriegt haben«, hat mein Vater einmal halb scherzhaft zu mir gesagt. »Du machst alles viel besser als ich damals, du bist stärker, dein Leben wird anders verlaufen.« Meine Eltern wissen nicht, dass ich mich eigentlich nie stark genug fühle. Wenn ich Probleme habe, kann ich ihnen nicht gleich davon erzählen. Erst wenn ich sie schon gelöst habe. Sonst machen sie mich noch nervöser, als ich ohnehin schon bin, und ich muss sie auch noch wegen meiner Sorgen trösten.
Dabei bin ich oft unsicher. Ich habe zu Ende studiert und immer hart gearbeitet, habe aber nie das Gefühl, genug geleistet zu haben. Oder dazuzugehören. Immer lande ich irgendwo dazwischen und passe nirgendwo richtig hin. Nicht zu den Intellektuellen, nicht zu den Proleten, nicht zu den Versagern, nicht zu den Erfolgreichen. Manchmal stehe ich minutenlang wie angewurzelt an einer Kreuzung und weiß nicht, wohin. Manchmal laufen mir mitten in der Stadt die Tränen über die Wangen. Und immer ist die Angst da, dass auch ich alles verlieren könnte, bevor ich irgendwo angekommen bin. Dass ich trotz aller Anstrengung irgendwann versagen könnte und das Leben meiner Eltern leben müsste. Diese Angst verfolgt mich. Als ich in meinem Café arbeitete, konnte ich sie vergessen.
Mein unerwarteter Gast bestellte nur einen Kaffee für sich und ihre Begleitung. Wir unterhielten uns nicht weiter, nicht übers Wetter und nicht darüber, wie ich hier gelandet war und was ich sonst so mache. Zum Abschied musterte meine ehemalige Chefin mich noch einmal und ließ mich mit einem »Trau dich!« zurück.
*
Dieses »Trau dich!« begleitet mich seitdem. Es hatte mich in einer höchst zwiespältigen Situation erwischt. Jetzt, da es endlich losgehen sollte, mich keine wissenschaftlichen Spitzfindigkeiten und Studienordnungen mehr daran hinderten, aufzubrechen, meine Interessen zu einem Job und zu Geld zu machen, fühlte ich mich ausgelaugt. »Wenn man mir meinen Traumjob jetzt anbieten würde«, sagte ich nach einem Jahr strapaziöser Abschlussprüfungen zu meiner besten Freundin, »würde ich ihn nicht haben wollen.« Und das, obwohl ich ständig fieberhaft überlegte, wie meine Zukunft aussehen könnte.
Hatte ich meine Chancen bereits verpasst? Die Zeit verträumt? Stundenlang am Tisch sitzen, nachdenken, schreiben lernen, sich bilden – das schien mir nicht mehr die Aussicht auf ein besseres Leben zu eröffnen, sondern ein Luxus zu sein, von dem niemand einen konkreten Nutzen hat. Meine alten Ideale, die Liebe zur Literatur, kamen mir inzwischen lächerlich vor. Wer bin ich schon, dachte ich.
Vielleicht hat die Auseinandersetzung mit meiner Herkunft damals angefangen. Ich wollte wissen, was mich als »Hartz-IV-Kind« von anderen unterscheidet. Ist es die Verzagtheit, mit der ich seither durchs Leben gehe? Es heißt oft, dass Kinder von Sozialhilfeempfängern ihrerseits zu Beitragsempfängern heranwüchsen, weil ihnen die Bildung fehle oder die Fähigkeit, morgens
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