Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
und sie nicht als Respektpersonen akzeptiert, aber nach außen habe ich sie genauso heftig verteidigt, wie ich zu Hause mit ihnen gestritten habe. Ich wusste, dass meine Eltern anders als andere und ein bisschen besonders sind. Aber da sie sich nie öffentlich, vor meinen Freunden oder auf Schulveranstaltungen, auffällig benommen haben, habe ich mich nie für sie geschämt. Einmal hat mir eine Klassenkameradin gesagt, weil ich keine Patentante aufzuweisen hatte: »Wenn deiner Mutter etwas passiert, nehmen wir dich auf.« Aber sonst war das Thema meiner Mutter zwischen meinen Klassenkameradinnen und mir schnell abgehakt und wurde von wichtigeren Dingen, wie der Frage der Rollenverteilung in unserer Detektivgruppe, verdrängt.
Ich hatte von klein auf das Gefühl, dass ich meine Eltern, besonders meine Mutter, verteidigen wollte und es eines Tages allen, die sie traurig gemacht haben, so richtig zeigen werde. Das erste Mal hatte ich dieses Gefühl, als ich drei oder vier Jahre alt war. Wir saßen in unserer Kreuzberger Wohnung im Wohn-Mama-Schlafzimmer. Meine Mutter kauerte mit dem Rücken an der Wand auf dem Boden. Ich sah ihre Tränen und spürte diese unendliche Traurigkeit, die sie verströmen konnte. Ich hatte instinktiv das Bedürfnis, sie zu trösten und alles gut werden zu lassen. »Wenn man weint, blutet die Seele«, habe ich irgendwo einmal gelesen. Ich wollte meine Mutter beschützen, die Freundin sein, die ihr zur Seite steht, die Mutter, die stark für sie ist, und der Mann, der sie gegen Beleidigungen oder Verachtung verteidigt. Leider ist mir das nicht gelungen. Aber das Gefühl begleitet mich bis heute, nur kommt es manchmal auch gepaart mit dem Wissen daher, nichts tun zu können.
Früher hatte ich zuweilen das Bedürfnis, sie schon dann zu verteidigen, wenn jemand sie aus Versehen auf der Straße anrempelte. Sie bleibt manchmal ganz verträumt an den falschen Stellen stehen, kurz nach der Rolltreppe in Warenhäusern zum Beispiel. Sie bewegt sich ohnehin oft langsam und schwebend, als käme sie aus einer anderen Welt, in der die Schwerkraft ausgehebelt ist. Im Bus hat einmal ein kleiner frecher Junge etwas Blödes zu ihr gesagt. Ich war, wie immer, bereit, zu bellen oder zurückzurempeln und habe ihn gleich zurechtgewiesen. Meine Mutter hat nur gelacht. »Lass doch, das macht doch nichts.« Ihr ist es egal. Manchmal macht mich das wütend. Dass sie sich nicht wehrt, dass sie alles erträgt.
Woher kommt dieser Impuls bei Kindern, sich so stark zu fühlen, dass sie glauben, ihre Eltern verteidigen zu können? Immer wenn ich dieses Gefühl der Verletztheit bei meiner Mutter spürte, nach Amtsbesuchen etwa oder nach Konflikten mit anderen Menschen, habe ich die Übeltäter in meiner Phantasie durch meine bloße Anwesenheit und ein paar gut gesetzte Worte fertig gemacht. Wie ein beschützender Wächter wollte ich mich vor meine Eltern stellen, so dass keiner ihnen wehtun, sie traurig machen oder benachteiligen konnte.
Richtig verteidigen musste ich meine Eltern aber erst im Ausland. Ich habe mich meistens geschmeichelt gefühlt, wenn mich Erwachsene mal zur Seite nahmen, mir erst erzählten, wie reif sie mich für mein Alter hielten und wie ernsthaft sie mich fänden. Dann folgten ein paar Fragen zu meinem Familienhintergrund. Es waren nur wenige, die sich überhaupt dafür interessierten. Danach zogen sie ein anerkennendes Resümee, das mit einem optimistischen Blick in meine Zukunft endete: »Wie bist du bloß so weit gekommen, bei den Eltern?« Solche Worte fühlten sich einen Moment lang an, als fiele ein warmer Sonnenstrahl auf mich, der mir jedoch in der nächsten Sekunde so zusetzte, dass mir speiübel wurde. Meine erste Reaktion war Stolz auf mich selbst, »Yeah«, dachte ich, »ich bin stark, ich habe es geschafft und meine Eltern überwunden.« Ich hatte mir Respekt verschafft. Gleichzeitig wusste ich immer, dass meine Eltern gute Menschen sind. Was ich als Lob empfand, war Verrat an ihnen: Sie sind grenzenlos großzügig und haben immer alles getan, so gut sie es konnten.
Das wichtigste Kapital in meinem Leben habe ich von ihnen selbst bekommen: Offenheit und Ehrlichkeit, Verständnis und Herzlichkeit und die Fähigkeit, Ängste überwinden zu können, denen sie noch hilflos ausgeliefert sind, und Verantwortung für meine Taten zu übernehmen. Meiner Meinung nach sind das die wichtigsten Werte im Leben überhaupt. Ich habe, was ich geschafft habe, nicht trotz , sondern wegen ihnen geschafft.
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