Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
kommunistischer Seite erdachte Verschwörungstheorie. Aber trotz der polemisch überzogenen Sprache, die mich eher irritiert, ertappe ich mich immer wieder dabei, zustimmend zu nicken. Es geht um den Wandel von »welfare« zu »workfare« – darum, wie der Wohlfahrtsstaat in Ländern wie Deutschland und der Schweiz allmählich abgebaut wird. Workfare, so Kurt Wyss, täuscht Integration vor und verstärkt den sozialen Ausschluss erwerbsloser Personen. Ohne offen zuzugeben, dass deren Exklusion von den Mechanismen des kapitalistischen Systems bestimmt wird, das ohnehin im landläufigen Sprachgebrauch längst zur »Marktwirtschaft« verbrämt wird. Wyss sieht darin nicht in erster Linie ein Versagen, sondern ein System: »Billiglöhne«, Ein-Euro-Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen und andere Maßnahmen produzieren zwangsläufig den »Nullerfolg«, wie mein Vater es in seinem Jobcenter-Tagebuch genannt hat – ein Kreislauf, der die bestehenden Verhältnisse unbedingt erhalten will, weil es andere gibt, die davon profitieren. »Je schlechter die Arbeitsbedingungen und je niedriger der Lohn, desto knapper sind die Ressourcen, über die die Arbeitskräfte verfügen – desto schwerer fällt es ihnen, sich neben der Arbeit körperlich und psychisch genügend (…) zu rekonstruieren. Desto schneller ist die Arbeitskraft verausgabt.«
Meine Mutter nickt, als ich ihr diese Sätze von Wyss vorlese, und erinnert sich an Ein-Euro-Jobs in stickigen Räumen, in denen sie, bis ihre Halswirbel schmerzten, die Zeit absaß, weil es nichts zu tun gab. Ausgelaugte Arbeitskräfte werden einfach durch neue ersetzt, fährt Wyss fort. Ich denke wieder an die Jobbörse des Arbeitsamtes. Bei meinem letzten Besuch standen nur Angebote von Zeitarbeitsfirmen, Personal Leasing AGs und 400-Euro-Jobs zur Auswahl.
Mein Telefon klingelt. Mein Vater ist dran. Er muss seinen Unmut darüber loswerden, dass Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger die Prozesskostenhilfe abschaffen will, die es bisher auch unbemittelten Leuten ermöglichte, sich einen Anwalt zu nehmen. »Die gute alte Bundesrepublik!«, stöhnt mein Vater und beschwört den Geist von Willy Brandt herauf, als das Land noch stolz auf seinen »Sozialstaat« war, der den sozialen Frieden sicherte. »Wo soll das noch hinführen?«, möchte mein Vater wissen. Er würde dem Urteil von Kurt Wyss uneingeschränkt zustimmen, dass die Politik nichts dagegen hat, eher die Zweiklassengesellschaft als den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. »Welcher Hartz-IV-Empfänger kann es sich schon leisten, Anwaltskosten abzustottern? Da verzichtet man doch gleich darauf, sein Recht einzuklagen«, grantelt er.
Ein Prof. em. Dr. Dr. h.c. Stefan Hradil von der Universität Mainz hat die Befürchtungen meines Vater bereits vor einigen Jahren in seinem Beitrag für das Dossier über »Armut in Deutschland«, herausgegeben von der Bundeszentrale für Politische Bildung, festgehalten und ähnlich über Hartz IV und die Versuche zur Förderung der Teilhabe geurteilt: »Armutsbekämpfung führt in Deutschland dazu, dass die Armut statistisch zunimmt.« Bilden sich die Mitglieder der Bundesregierung eigentlich politisch weiter? In den Publikationen der entsprechenden Ministerien klingt alles zu dem Thema Armutsbekämpfung immer unglaublich optimistisch und lösungsorientiert. Familienministerin Kristina Schröder weiß besonders zuversichtlich zu lächeln – selbst die im Januar 2013 durch die Presselandschaft der Bundesrepublik rauschende Kritik an der Unwirksamkeit ihrer Familienförderung versucht sie noch mit dem Hinweis wegzulächeln, der Staat wolle Familien eben keine normativen Vorschriften machen. Deswegen zahlt sie auf der einen Seite an Familien Betreuungsgeld, die ihre Kinder zu Hause lassen, statt sie in den Kindergarten zu schicken, während auf der anderen Seite Hartz-IV-Empfängern das Kindergeld angerechnet wird, obwohl jeder inzwischen weiß, dass das von der Bundesregierung verabschiedete Bildungspaket auf wenig Resonanz stößt. »Damit hätte ich dir damals ohnehin nicht den Musikunterricht finanzieren können«, meint meine Mutter beiläufig.
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Wenn ich mit meinen Bekannten über Hartz IV und Chancengleichheit spreche, bin ich oft verwirrt durch die extrem auseinanderliegenden Meinungen, mit denen ich mich in solchen Diskussionen konfrontiert sehe. Die einen, die in die Gesellschaft integriert und meistens deutscher Herkunft sind, betonen, dass in der Schule jeder die
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