Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
ich es später noch von anderer Stelle hören sollte. Auf jeden Fall, sagte ich mir, muss ich aufhören, mich anpassen zu wollen. Das macht in meinem Fall alles noch schlimmer. Zu mir selbst zu stehen, anstatt mich zu verstecken, ist immer noch eine große Herausforderung für mich. Doch es gibt immer mal wieder einen Menschen, der genau das erkennen kann. In der nächsten renommierten Redaktion, diesmal in Berlin, lief alles etwas runder, und am Ende bekam ich vom Chefredakteur wieder ein »Trau dich!« mit auf den Weg. Das hat mir viel bedeutet. Aber ich musste erst wieder den Mut zum Träumen finden.
KAPITEL ZWANZIG
Windschiefe Vorbilder
In dem es um meine sentimentale Beziehung zu Autos und um eine traurige Hochzeit geht und die Suche nach den richtigen Vorbildern dazu führt, dass ich meine Eltern verteidige.
Ich warte auf eine Mitfahrgelegenheit nach Berlin. Ein schwarzer Mercedes hält vor dem Tübinger Bahnhof. »Hattest du Sorge, dass wir nicht kommen?«, fragt mich der Mann, drahtig, dynamisch, grüne Fleece-Jacke, silberne Strähnen. »Wenn ich nicht gekommen wäre, hätte ich schon jemanden geschickt.« Bevor ich antworten kann, hat er meinen Rucksack schon im Kofferraum verstaut. Ich setze mich auf die hellblaue Decke, die auf dem Rücksitz ausgebreitet ist. Neben den Picknickkorb. »Da sind zwei Thermoskannen, eine ist für Sie«. Seine Frau dreht sich zu mir um. Sie hat mittelbraune Haare, kinnlang, die Augen ein bisschen geschminkt. Eine, die Laugenbrötchen und Kaffee um sieben Uhr morgens für sich, ihren Mann und eine fremde Mitfahrerin vorbereitet hat. Sie liebt Karten, deswegen wird sie an der nächsten Tankstelle den Autoatlas kaufen, weil sie noch keinen Stadtplan von Berlin hat. Obwohl sie eigentlich gar nicht durch Berlin müssen.
Der Mann fährt schnell und sicher. Er strahlt diese Aura von »Ich-habe-alles-im-Griff« aus, ohne angeberisch zu wirken. Jede Bewegung, die er macht, ist schnell und energisch. Die beiden sind auf dem Weg zu ihrer Tochter, die 700 Kilometer von Tübingen in einer Kleinstadt oberhalb Berlins gerade ein Praktikum macht. Die Strecke werden sie retour in zwei Tagen zurücklegen. Ganz schön anstrengend, denke ich, und als ob sie meine Gedanken gehört hätte, sagt die Frau fröhlich: »Das ist nur halb so weit wie nach Istanbul.« Ihr Mann stammt von dort. Sie fahren sehr organisiert. Es ist die Fahrt mit den meisten Pausen und doch eine der schnellsten, die ich nach Berlin mitgefahren bin, sicher die kurzweiligste. Ich beobachte die beiden interessiert. Ich vergleiche sie mit meinen Eltern.
Er meckert, wenn sie zu spät Wegweisungen gibt, ich habe trotzdem das Gefühl, dass sie sich respektieren. Ich ahne, dass sie sich im Studium kennengelernt haben. Bei den letzen Zügen einer Zigarette erzählt er mir, wie er als Student in Tübingen Schnee geschippt hat. Jeder hat seins: Er trainiert eine Fußballmannschaft, sie ist Lehrerin und organisiert offensichtlich mit großer Begeisterung Ausflüge für ihre Klassen.
Nach zwei Dritteln der Strecke fragt er sie, ob sie jetzt fahren möchte. Das ist das erste Mal, dass ich eine Frau dieses Angebot annehmen sehe. Sie fährt nicht ganz so schnell wie er, aber mit gelassener Selbstverständlichkeit. So stelle ich mir richtige Eltern vor, den Gedanken kann ich mir nicht verkneifen. Sie fahren ein großes Auto. Sie machen Urlaub. Sie bringen ihrer Tochter mal eben zwei Kisten mit Türkischbüchern und ein paar Kleinigkeiten vorbei. Zwei Tage Urlaub, mehr Zeit kann keiner von beiden freinehmen. Aber sie schmiert die Brötchen und beide fahren einfach los.
Falls ihre Tochter da oben bleiben würde, dann bräuchte sie ein Auto. »Man hat ihr einen Ausbildungsplatz angeboten«, erzählt mir die stolze Mutter. Die Tochter macht gerade ihren Führerschein. »Sie könnte sich ein billiges Auto kaufen«, sagt die Mutter. Oder die Eltern würden ihr eins besorgen, da bin ich ganz sicher.
Meine Eltern könnten mir keine Kisten bringen, mich nicht beim Autokauf beraten. Meine Eltern würden mich vermutlich auch nicht besuchen kommen, schon gar nicht an einem Wochenende so viele Kilometer hin und zurück fahren. Ich schaue durchs Autofenster auf die Landschaft. Wegen der Nebelschwaden sieht man fast nichts. Ich kann nicht schlafen, der Radiosender ist laut. SWR mit Pop und Hits. Die Lehrerin singt einen Refrain mit: »Du bist am Leben.« Ich mag sie dafür. Ich denke zum ersten Mal daran, dass meine Eltern mittlerweile zehn Jahre
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