Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
älter sind als diese beiden.
Autos machen mich sentimental. Autos haben mich immer an Orte gebracht, an die ich ohne Auto nicht gekommen wäre oder an die meine Mutter nicht mit mir gefahren wäre. Es ist Luxus, von der Haustür direkt ans Ziel zu kommen, ohne die U-Bahn benutzen oder die Schuhe nach der Länge des Weges und den Pflastersteinen zwischen Ziel und Bahnhof wählen zu müssen. Als Kind wollte ich nie ankommen und nie aussteigen müssen. Einige Male haben uns Freunde abends mit ihrem Auto nach Hause gefahren. Ich erinnere mich an die Lichter. Ich wollte immer einschlafen, damit man mich nicht aus dem Auto holen konnte, wenn wir da waren. Aber ich konnte nie schlafen, weil ich nichts von der Autofahrt verpassen wollte. Also habe ich am Ende immer so getan, als würde ich schlafen. Ich musste immer aussteigen.
Dann bekam ich einen kleinen silbernen BMW mit Fernsteuerung. Den hatte ich unbedingt haben wollen. Davon standen damals immer mal einige an den Straßenrändern. Später wollte ich so ein Auto fahren. Ich habe Autos nicht als Wertgegenstände verstanden. Eher so als Freunde, vielleicht wie in dem Zeichentrickfilm Cars, oder wie beim VW-Käfer Herbie. Als Kind habe ich manchmal geträumt, ich könnte schon Auto fahren. Aber es hat dreißig Jahre gedauert, bis ich mir den Führerschein leisten konnte.
Im Ausland habe ich, als ich siebzehn war, heimlich im Auto geweint. Ein Auto ist gerade groß genug für eine ganze Familie. Im Auto entsteht eine enge Gemeinschaft. Solange ich im Auto mit einer Familie saß, war ich plötzlich Teil von etwas, das mir eigentlich fremd war. Etwas, das ich vermisst habe. Deswegen machte es mich traurig. Ich fühlte mich glücklich und fehl am Platz zugleich. Ich habe in meinem Leben mit vielen Familien in ihren Autos gesessen. Solange ich da saß, gehörte ich dazu.
Menschen, die ein Auto haben, strahlen Souveränität aus. Sie holen ab, bringen nach Hause, sie sind Möglichmacher. Sie riechen anders. Nach Polstersitzen, Wunderbäumen und Autoradios. Sie haben dicke schwarze Schlüssel. Sie sind unabhängig. Sie brauchen niemanden bitten, sie können ihre rückenkranke Mutter einfach einpacken und mitnehmen. Sie können ein Stück »Zuhause« transportieren, große schwere Dinge mitnehmen und sie können viel einkaufen. Autos sind Souveränität.
Ein schwarzer Mercedes, wie der, in dem ich gerade sitze, ist sehr souverän.
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Meine Eltern sind überhaupt nicht so souverän wie diese beiden Eltern. Aber im Gegensatz zu manchen anderen Eltern, die materiell und emotional mehr zu bieten haben, haben meine Eltern immer zu mir gehalten. Ich weiß noch, wie ich in meinem ersten Semester an der Uni zusammen mit einer hübschen Brünetten vor der Liste mit den Klausurergebnissen stand. Sie war völlig aufgelöst, ihre Großeltern würden sich weigern, sie weiter in ihrem Studium zu unterstützen, wenn sie die Massenklausur Statistik nicht mit mindestens einer Eins bestehen würde, erzählte sie. Ehrlich gesagt dachte ich damals, sie übertreibt maßlos und dramatisiert. Es scheint ein solches Verhalten von ehrgeizigen Eltern oder Großeltern aber zu geben.
Die Mutter meiner damaligen besten Freundin hat ihre Tochter neben einem festen Nebenjob und Klausuren auch jede freie Minute auf Promotionsjobs verbringen lassen, obwohl sie sie hätte unterstützen können, zumindest als ihre Tochter eine Zeitlang ins Krankenhaus musste. Überhaupt hatte besagte Mutter meine Freundin gleich zu Anfang des Studiums aus dem Haus geworfen. Nun, meine Freundin ist sehr selbständig und hat viel geschafft. Trotzdem habe ich mich damals sehr darüber gewundert, dass es so etwas gibt. Ich muss vor meinen Eltern zum Glück nichts verheimlichen und nichts beschönigen. Über das, was sie haben, kann ich verfügen. Und in dieser Einstellung sind sich meine Eltern total ähnlich, obwohl sie sonst nichts gemeinsam zu haben scheinen.
Dass ausgerechnet meine Eltern sich vor Jahren getroffen und zusammen ein Kind gezeugt haben, muss in einem dieser Momente passiert sein, in denen das Schicksal, die Engel oder die Götter ihre Pflicht vernachlässigt haben, die Schwachen vor sich selbst zu beschützen. Auf dem einzigen Hochzeitsfoto, das ich von ihnen habe, gehen vier Menschen eine Treppe vor einer gusseisernen Tür hinunter. Die vier Menschen bleiben nicht einmal stehen, um sich für die Kamera aufzustellen. Eine Passantin huscht gerade noch aus dem Bild. Falls es jemals ein richtiges
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