Nichts, was man fürchten müsste
bekloppt.«
Ihre Mischung aus wilder Konfabulation und klarer Einsicht erwischte einen ständig auf dem falschen Fuß. Im Allgemeinen nahm sie es gelassen hin, ob sie Besuch bekam oder nicht, und gewöhnte sich an zu sagen: »Du musst jetzt gehen«; das war das totale Gegenteil ihres jahrzehntelangen Verhaltens. Eines Tages schaute ich auf die Fingernägel hinunter, die fünf Jahre zuvor die Bewunderung der Standesbeamtin für Geburten und Todesfälle gefunden hatten. Es war deutlich zu sehen, dass meine Mutter ihre Nägel schon lange nicht mehr pflegen konnte; die dick lackierten und liebevoll in Form gefeilten Nägel waren weitergewachsen und ließen bereits einen drei Millimeter breiten, klaren, unlackierten weißen Rand über dem Nagelhäutchen erkennen. Und einst hatte sie sich vorgestellt, sie könne ihre Nägel noch pflegen, wenn sie in Taubheit versunken wäre. Ich ließ den Blick von den Nagelhäutchen nach oben wandern: Die Finger an ihrem toten Arm waren zu dem Umfang und der äußeren Beschaffenheit von Mohrrüben angeschwollen.
Auf der Rückfahrt nach London hatte ich die untergehende Sonne im Rückspiegel und die Haffner-Symphonie im Radio und dachte: Wenn das so ist, obwohl jemand sein Leben lang mit dem Gehirn gearbeitet hat und sich eine anständige Pflege leisten kann, dann will ich das nicht. Dann fragte ich mich, ob ich mir damit etwas vormachte und das – wenn es so weit wäre – auf jeden Fall wollen würde, egal wie; ob ich so mutig oder so geschickt wäre, es zu umgehen; oder ob so etwas einfach geschieht und, weil es geschieht, den Menschen dazu verurteilt, es tobend und angsterfüllt durchzustehen. Auch wenn man seinen Eltern zu Lebzeiten noch so gut entkommt, machen sie im Tod wahrscheinlich wieder ihre Rechte geltend und bestimmen, wie man stirbt. Die Schriftstellerin Mary Wesley schrieb: »In meiner Familie fällt man – was wohl genetisch bedingt ist – einfach tot um. Eben war man noch voll da, und im nächsten Moment ist man tot. Eine saubere Lösung. Ich bete darum, dass ich dieses Gen geerbt habe. Ich habe kein Verlangen danach, lange dahinzusiechen und zu einer bettlägerigen Nervensäge zu werden. Ich wünsche mir einen kurzen, heftigen Schock für meine Lieben: schöner für sie, wunderbar für mich.«
Diese Hoffnung wird oft geäußert, aber meine Hausärztin kann ihr nichts abgewinnen. Sie zitiert diese Passage und meint, das sei »vielleicht wieder ein Beweis dafür, wie man heutzutage den Tod nicht wahrhaben will« und übersehe die »Möglichkeiten, die eine letzte Krankheit bietet«. Ich glaube kaum, dass mein Vater oder meine Mutter ihre letzte Krankheit als etwas angesehen hätten, das ihnen »Möglichkeiten« bot: Erinnerungen auszutauschen, Abschied zu nehmen, Reue oder Vergebung zu zeigen; dagegen war die Begräbnisplanung – das heißt ihr Wunsch nach einer kostengünstigen Einäscherung praktisch ohne Trauergäste – schon vor geraumer Zeit festgelegt worden.
Hätten meine Eltern den Tod »zu einem Erfolg gemacht«, wenn sie emotional, bekenntnisfreudig, sentimental geworden wären? Hätten sie festgestellt, dass sie sich das schon immer gewünscht hatten? Das würde ich eher bezweifeln. Auch wenn ich es bedaure, dass mein Vater mir nie gesagt hat, dass er mich liebt, bin ich mir ziemlich sicher, dass es so war, und sein trauriges Schweigen über diese und andere wichtige Angelegenheiten bedeutet zumindest, dass er sich im Sterben treu blieb.
Als meine Mutter zum ersten Mal ins Krankenhaus kam, befand sich im Nachbarbett eine komatöse alte Frau. Sie lag regungslos auf dem Rücken. Eines Nachmittags, als meine Mutter in einem ziemlich bekloppten Zustand war, wurde diese Frau von ihrem Mann besucht. Das war ein kleiner, gepflegter, ehrbarer Arbeiter etwa Ende sechzig. »Hallo, Dulcie, ich bin’s, Albert«, verkündete er mit einer durch die ganze Station hallenden Stimme und einem schweren, reinen Oxfordshire-Akzent, den man hätte auf Band aufzeichnen sollen, weil er bald ausstirbt. »Hallo mein Liebling, hallo mein Schatz, wachst du für mich auf?« Er gab ihr einen schallenden Kuss. »Liebling, ich bin’s, Albert, wachst du für mich auf?« Dann: »Ich dreh dich mal um, damit ich dir das Hörgerät einsetzen kann.« Eine Krankenschwester kam. »Ich setze ihr das Hörgerät ein. Heute Morgen ist sie nicht für mich aufgewacht. Ach, es ist rausgefallen. So, ich dreh dich noch ein bisschen weiter um. Hallo Liebling, hallo Dulcie, hallo meine Schöne,
Weitere Kostenlose Bücher