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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Erinnerung, dann werden wir vergessen. Nicht sofort, sondern scheibchenweise. Unsere Eltern bleiben uns mit einem Großteil ihres Erwachsenenlebens in Erinnerung, unsere Großeltern mit dem letzten Drittel; darüber hinaus gibt es vielleicht noch einen Urgroßvater mit einem kratzigen Bart und ekelhaftem Geruch. Vielleicht roch er nach Fisch. Und sonst? Fotografien und ein paar zufällige Unterlagen. Meine flache Schublade wird in Zukunft technologisch aufgerüstet sein: Generationen von Vorfahren werden auf Filmen, Ton- und Videobändern und CD s weiterleben; sie werden sich bewegen, reden, lächeln und beweisen, dass sie auch hier waren. In meiner Jugendzeit versteckte ich einmal vor dem Abendessen ein Tonbandgerät unter dem Tisch, um zu beweisen, dass diese Mahlzeiten ganz und gar keine »geselligen Ereignisse« waren, wie meine Mutter es eigentlich verfügt hatte, und niemand je etwas auch nur annähernd Interessantes sagte; daher sollte mir erlaubt sein, mich aus dem Tischgespräch herauszuhalten und ein Buch zu lesen, wenn ich wollte. Diese persönlichen Absichten verriet ich nicht, da ich der Meinung war, sie würden klar auf der Hand liegen, sobald diese Mischung von Besteckgeklapper, Banalitäten und Gesprächsfetzen ohne jeden logischen Zusammenhang vorgespielt würde. Zu meinem Ärger war meine Mutter von dem Band entzückt und behauptete, wir hörten uns alle an wie Figuren in einem Stück von Pinter (ein in meinen Augen für beide Seiten zweifelhaftes Kompliment). Und dann machten wir genauso weiter wie vorher; da ich das Band nicht aufbewahrt habe, sind die Stimmen meiner Eltern auf dieser Welt für immer ausgelöscht und jetzt nur noch in meinem Kopf zu hören.
    Ich sehe meine Mutter im Krankenhaus vor mir (und höre sie auch); sie trägt ein grünes Kleid und sitzt schief in einem Rollstuhl neben ihrem Bett. An dem Tag war sie böse auf mich: nicht wegen eines Tennisspiels, sondern weil ich gebeten worden war, mit dem Arzt über ihre Behandlung zu sprechen. Alles, was auf ihre Behinderung hinwies, machte sie wütend, wie sie auch der aufgesetzte Optimismus der Physiotherapeuten wütend machte. Wenn sie die Zeiger einer Uhr benennen sollte, blieb sie stumm; wenn sie die Augen öffnen oder schließen sollte, rührte sie sich nicht. Den Ärzten war nicht klar, ob sie nicht konnte oder nicht wollte. Ich vermute, sie wollte nicht – sie »verweigerte die Aussage«, wie die Juristen sagen –, denn wenn sie mit mir zusammen war, konnte sie ganze Sätze artikulieren. Unter Qualen zwar, aber es waren ja auch häufig Sätze voller Qualen. Zum Beispiel: »Du verstehst eben nicht, wie schwer es für eine Frau ist, die ihr Leben immer im Griff hatte, so eingeschränkt zu sein.«
    An jenem Nachmittag verbrachte ich einige unbehagliche Minuten mit ihr und ging dann zu dem Arzt. Seine Prognose machte wenig Hoffnung. Als ich auf die Station zurückkehrte, sagte ich mir, mein Gesicht dürfe nicht verraten, dass seiner medizinischen Meinung nach der nächste Schlaganfall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich sein würde. Doch meine Mutter war mir weit voraus. Als ich um eine Ecke bog, sah ich sie auf der belebten Station schon aus zwanzig Metern Entfernung gespannt auf meine Rückkehr warten; und als ich näher kam und mir dabei die halbe Lüge zurechtlegte, die ich ihr erzählen wollte, streckte sie den noch intakten Unterarm aus und zeigte mit dem Daumen nach unten. Es war das Schockierendste, was sie je in meinem Beisein getan hatte, und zugleich das Bewundernswerteste; und es war das einzige Mal, dass sie etwas tat, was mir das Herz zerriss.
    Sie meinte, man sollte ihr im Krankenhaus den »unnützen« Arm amputieren; eine Zeit lang glaubte sie, in Frankreich zu sein, und überlegte, wie ich sie wohl gefunden hatte; sie dachte, eine spanische Krankenschwester stamme aus ihrem Dorf in Oxfordshire und alle anderen Schwestern aus den verschiedenen Gegenden Englands, in denen sie in den achtzig Jahren zuvor gelebt hatte. Sie fand es »dämlich«, dass sie nicht in einem Anlauf gestorben war. Als sie mich fragte: »Macht es dir Schwierigkeiten, mich zu verstehen?«, sprach sie jede einzelne Silbe dieses Satzes penibel aus. »Nein, Ma«, antwortete ich, »ich verstehe alles, was du sagst, aber du kriegst nicht immer alles ganz richtig auf die Reihe.« – »Ha«, erwiderte sie, als wäre ich so ein blöde lächelnder Physiotherapeut. »Das ist noch milde ausgedrückt. Ich bin total

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