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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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dominanten landlebenden Wirbeltiere wurden. Vielleicht macht ein drittes Massenaussterben dann uns den Garaus und überlässt die Welt … wem? Den Käfern? Der Genetiker J. B. S. Haldane pflegte zu scherzen, wenn es einen Gott gäbe, müsse er »die Käfer maßlos geliebt« haben, schließlich habe er 35 0 000 Arten davon geschaffen.
    Doch selbst ohne ein neues Massenaussterben wird sich die Evolution nicht so entwickeln, wie wir es uns – in unserer sentimentalen und solipsistischen Art – erhoffen. Der Mechanismus der natürlichen Selektion beruht nicht auf dem Überleben des Stärksten, auch nicht des Intelligentesten, sondern des Anpassungsfähigsten. Die Sache mit dem Besten und Klügsten können Sie sich aus dem Kopf schlagen, ebenso die Vorstellung, die Evolution sei so etwas wie eine grandiose, unpersönliche, gesellschaftlich akzeptable Form der Eugenik. Sie wird mit uns machen, was sie will – vielmehr nicht mit »uns«, denn bald wird sich zeigen, dass wir für den Lauf der Evolution schlecht gerüstet sind; sie wird uns als primitive, anpassungsunfähige Prototypen fallen lassen und blindlings neuen Lebensformen entgegenstreben, mit denen »wir« – und Bach und Shakespeare und Einstein – so wenig Ähnlichkeit haben wie Bakterien und Amöben. So viel a fortiori zu Gautier und dem Triumph der Kunst über den Tod; so viel zu dem kläglich gemurmelten Ich war auch hier. Dieses »auch« gibt es nicht, weil da nichts und niemand zu erkennen sein wird, an den oder das wir uns wenden können, nichts, was uns seinerseits erkennen wird. Vielleicht haben sich diese künftigen Lebensformen eine Intelligenz bewahrt und sie den Umständen angepasst, dann betrachten sie uns vermutlich als primitive Organismen mit seltsamen Gebräuchen von unbedeutendem historisch-biologischen Interesse. Vielleicht sind es aber auch Lebensformen mit geringer Intelligenz, aber großer physischer Anpassungsfähigkeit. Man stelle sich vor, wie sie an der Erdoberfläche herumknabbern, während alle Spuren der kurzen Existenz eines Homo sapiens in den fossilen Schichten darunter schlummern.
    Im Laufe dieses Prozesses wird es irgendwann ebenso wahnhaft erscheinen, Gott zu vermissen, wie wenn meine Mutter sich einbildete, ich hätte sie auf dem Tennisplatz versetzt. Dabei muss Gott wegen des Amöben-Theorems nicht zwangsläufig seinen Hut nehmen. Ein experimentierender Gott wäre auch mit diesem Modell noch kompatibel – schließlich hätte ein solcher Gott, wenn es ihn denn gäbe, wohl kaum Interesse an einer bis in alle Ewigkeit gleich bleibenden Probandengruppe. Es wäre entsetzlich öde, für die nächsten sechs Milliarden Jahre immer nur mit und an Menschen zu arbeiten: Vor lauter Langeweile würde Gott sich womöglich umbringen wollen. Und wenn wir den Planeten nicht den Käfern überlassen und uns er folgreich zu gescheiteren und vielschichtigeren Wesen entwickeln, kommt dann vielleicht Gotteshypothese Nummer 72 b ins Spiel: dass wir zwar jetzt keine unsterbliche Seele haben, in Zukunft aber doch. Gott wartet nur ab, bis das Argument der Unwürdigkeit nicht mehr gilt.
    Zwei Fragen dazu. Lässt uns die Erkenntnis, dass wir aus der Sicht eines sich in der Evolution befindenden Planeten mit weiteren sechs Milliarden Jahren Laufzeit wenig mehr sind als Amöben, leichter akzeptieren, dass wir keine Willensfreiheit besitzen? Und wenn ja (und sogar wenn nein), wird das Sterben dadurch leichter?

    Wenn ich an meinen Vater denke, sehe ich oft seine Fingernägel vor mir, die sich über die Fingerkuppen wölbten. In den Wochen nach seiner Einäscherung stellte ich mir nicht sein Gesicht oder seine Knochen im Feuer vor, sondern diese altvertrauten Fingernägel. Im Übrigen denke ich daran, welche Verletzungen sein Körper am Ende aufwies – Gehirn und Zunge vom Schlaganfall geschädigt; eine lange Narbe am Bauch, die er mir einmal zeigen wollte, aber ich hatte nicht den Mut, sie mir anzusehen; die Handrücken mit blauen Flecken übersät, wo Infusionen angelegt worden waren. Wenn wir nicht großes Glück haben, zeigt sich die Geschichte unseres Sterbens an unserem Körper. Es wäre eine kleine Rache, zu sterben und keine Anzeichen des Sterbens aufzuweisen. Jules Renards Mutter wurde ohne Kratzer oder Schramme aus dem Brunnen gezogen. Nicht, dass das dem Tod – dem letzten Erbsenzähler – nicht schnurzegal wäre. Wie es ihm auch egal ist, ob wir uns im Sterben treu bleiben oder nicht.
    Wir leben, wir sterben; wir bleiben in

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