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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Steigerungen aus der unerreichbaren Zeit junger Liebe, die dazu führte, dass es mich gibt. Ich spüre den wechselnden Namen meines Vaters nach. Er wurde Albert Leonard getauft und von seinen Eltern und Geschwistern Leonard genannt. Als er Lehrer wurde, setzte sich Albert durch, und in den Lehrerzimmern hieß er vierzig Jahre lang »Albie« oder »Albie Boy« – was allerdings von seinen Initialen A. L. B. abgeleitet sein könnte –, manchmal auch scherzhaft »Wally« nach dem Arsenal-Verteidiger Wally Barnes. Meine Mutter konnte beide Taufnamen nicht leiden (Wally sicher auch nicht) und beschloss, ihn Pip zu nennen. Nach den Großen Erwartungen von Dickens? Er hatte aber kaum Ähnlichkeit mit Philip Pirrip, und sie ebenso wenig mit Estella. Als er im Krieg mit der Royal Air Force in Indien war, änderte er seinen Namen noch einmal. Ich besitze zwei Federhalter von ihm, deren Schaft von einem indischen Künstler manuell verziert wurde. Eine blutrote Sonne geht über einem Tempel mit Minaretten und über dem Namen meines Vaters unter: »Rickie Barnes 1944 Allahabad«. Wo kam dieses Rickie her, und wo ist es geblieben? Im Jahr darauf kehrte mein Vater nach England zurück und wurde wieder zu Pip. Er hatte zwar wirklich etwas Jungenhaftes an sich, doch als er dann sechzig, siebzig, achtzig wurde, passte der Name immer weniger zu ihm …
    Er brachte verschiedene kunstgewerbliche Gegenstände aus Indien mit: ein Messingtablett, ein Zigarettenkästchen mit Intarsienarbeit, einen Brieföffner aus Elfenbein mit einem Elefanten darauf und zwei ausklappbare Beistelltischchen, die oft zusammenklappten. Außerdem etwas, das mir als Kind ebenso begehrenswert wie exotisch erschien: einen runden Lederpuff. Wer besaß in Acton schon einen indischen Lederpuff? Ich warf mich immer mit Hechtsprung darauf; später, als wir in einen Vorort gezogen waren und ich über kindisches Gebaren hinaus war, ließ ich mich mit meinem ganzen pubertären Gewicht und so etwas wie aggressiver Liebe darauf plumpsen. Das entlockte dem Puff zudem eine Art Furzgeräusch, während die Luft durch die Nähte im Leder herausgedrückt wurde. Am Ende rissen die Nähte durch meine Malträtierungen auf, und ich machte eine Entdeckung, an der jeder Psychoanalytiker wohl seine helle Freude hätte. Denn Rickie Barnes hatte aus Allaha-bad oder Madras natürlich keinen vollen, dicken Puff mitgebracht, sondern eine verzierte Lederhülle, die er – nun wieder Pip – und seine Frau irgendwie füllen mussten.
    Sie füllten ihn mit den Briefen aus der Zeit ihrer jungen Liebe und den ersten Ehejahren. Ich war ein idealistischer Jugendlicher, der bei der Konfrontation mit den Realitäten des Lebens leicht in Zynismus verfiel; dies war ein solcher Moment. Wie konnten meine Eltern nur ihre (zweifellos gebündelten und mit Bändern verschnürten) Liebesbriefe nehmen, in winzige Fetzen zerreißen und dann zusehen, wie andere Leute sich mit ihrem fetten Arsch daraufhocken? Wenn ich »meine Eltern« sagte, meinte ich natürlich meine Mutter, denn ihr traute ich dieses praktische Recycling eher zu als meinem Vater mit seinem, wie ich fand, gefühlvolleren Wesen. Wie sollte ich mir diese Entscheidung und diese Szene vorstellen? Haben sie die Briefe gemeinsam zerrissen oder nur sie allein, während er bei der Arbeit war? Gab es eine Auseinandersetzung darüber, waren sie sich einig, war einer von beiden insgeheim gekränkt? Und selbst angenommen, sie wären sich einig gewesen, wie haben sie es dann in die Tat umgesetzt? Ein schönes Dilemma: Würde man lieber die eigenen Liebeserklärungen zerreißen oder die, die man bekommen hat?
    In Gegenwart anderer ließ ich mich jetzt ganz sanft auf den Puff nieder; wenn ich allein war, setzte ich mich mit einem schweren Plumps darauf, damit er beim Ausatmen womöglich einen Fetzen blaues Luftpostpapier ausstieß, das von der jugendlichen Hand meines Vaters oder meiner Mutter beschriftet war. Wenn dies ein Roman wäre, hätte ich jetzt ein Familiengeheimnis aufgedeckt – doch niemand wird je erfahren, dass es nicht dein Kind ist, oder nun wird das Messer nie gefunden, oder ich hatte mir immer gewünscht, dass J. ein Mädchen wird  –, und das hätte mein Leben von Grund auf verändert. (Meine Mutter hatte sich tatsächlich gewünscht, dass ich ein Mädchen würde, und schon den Namen Josephine dafür ausgesucht, das wäre also kein Geheimnis gewesen.) Andererseits hätte ich aber auch nur die schönsten Worte entdecken können, die

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