Nichts, was man fürchten müsste
meine Eltern im tiefsten Herzen füreinander fanden, den innigsten Ausdruck von Liebe und Treue. Und keinerlei Geheimnisse.
Der kollabierende Puff wurde irgendwann ausrangiert. Er landete aber nicht auf dem Müll, sondern wurde hinten im Garten abgestellt, wo er schwer und vom Regen durchweicht wurde und immer mehr Farbe verlor. Wenn ich vorbeikam, trat ich manchmal dagegen, und mein Gummistiefel förderte weitere blaue Schnipsel zutage, auf denen jetzt die Tinte verlief und es noch unwahrscheinlicher wurde, dass sich Geheimnisse entziffern ließen. Meine Tritte waren die eines ernüchterten Romantikers. Wenn das alles ist, was am Ende bleibt …
Fünfunddreißig Jahre später stand ich vor dem, was am Ende vom Leben meiner Eltern geblieben war. Mein Bruder und ich wollten jeweils ein paar Dinge behalten; meine Nichten suchten sich etwas aus; dann kam der Haushaltsauflöser. Das war ein sympathischer, kundiger Mann, der mit den Sachen sprach, während er sie sortierte. Vermutlich war diese Angewohnheit darauf zurückzuführen, dass er die Kundschaft sachte auf Enttäuschungen vorbereiten wollte, und daraus hatte sich dann eine Art Unterhaltung zwischen ihm und dem Gegenstand in seiner Hand entwickelt. Er war sich auch bewusst, dass all das, was bald in seinem Laden Gegenstand kaltblütigen Feilschens sein würde, hier und jetzt zum letzten Mal etwas war, was einst jemand ausgewählt und damit gelebt hatte, was geputzt, abgestaubt, poliert, repariert und geliebt worden war. Darum fand er lobende Worte, wo er nur konnte: »Das ist hübsch – nicht wertvoll, aber hübsch«, oder »viktorianisches Pressglas – findet man immer seltener – wertvoll ist es nicht, aber es wird seltener.« Mit ausgesuchter Höflichkeit gegenüber diesen nunmehr herrenlosen Gegenständen vermied er Kritik und Abneigung, sondern äußerte lieber Bedauern oder aber langfristige Hoffnung. Über ein paar Melba-Gläser aus den zwanziger Jahren ( scheuß lich, fand ich): »Die waren vor zehn Jahren große Mode; jetzt will sie niemand mehr haben.« Über einen einfachen Pflanzenständer mit grün-weißem Schachbrettmuster von Heal’s: »Da müssen wir wohl noch vierzig Jahre ins Land gehen lassen.«
Er nahm mit, was sich verkaufen ließ, blätterte ein paar Fünfzig-Pfund-Noten hin und ging. Dann musste das Auto vollgeladen und mehrmals zum Recycling-Hof gefahren werden. Als guter Sohn meiner Mutter hatte ich dafür eine Anzahl stabiler grüner Plastiksäcke besorgt. Ich schleppte den ersten an den Rand des großen gelben Containers und stellte – nun noch mehr der gute Sohn meiner Mutter – fest, dass die Säcke viel zu praktisch waren, um sie einfach wegzuwerfen. Daher kippte ich, statt die letzten Reste des Lebens meiner Eltern dezent in den Säcken zu lassen, alles, was der Haushaltsauflöser nicht haben wollte, in den Container und bewahrte die Säcke auf. (Ob meine Mutter sich das gewünscht hätte?) Unter den allerletzten Gegenständen war eine dämliche Kuhglocke aus Metall, die Dad auf dem Ausflug nach Champéry gekauft hatte, von dem mein Bruder über ein enttäuschendes Schinkensandwich berichtete; sie schepperte ding-dong in den Container hinunter. Ich blickte auf den Haufen Plunder hinab und kam mir, obwohl da nichts Belastendes oder auch nur Indiskretes lag, etwas schäbig vor: als hätte ich meine Eltern in einer Papiertüte statt in einem richtigen Sarg bestattet.
Übrigens ist dies nicht »meine Autobiografie«. Ich bin auch nicht »auf der Suche nach meinen Eltern«. Ich weiß, wer jemandes Kind ist, muss mit einer Übelkeit erregenden Vertrautheit wie auch mit großen Tabubereichen der Unwissenheit rechnen – zumindest legt die Erfahrung mit meiner Familie diesen Eindruck nahe. Und obwohl ich immer noch gern wüsste, was sich in diesem Puff verbarg, glaube ich nicht, dass meine Eltern irgendwelche außergewöhnlichen Geheimnisse hatten. Zum Teil versuche ich herauszufinden – was vielleicht unnötig erscheint –, wie tot sie wirklich sind. Mein Vater starb 1992 , meine Mutter 1997 . Genetisch leben sie in zwei Söhnen, zwei Enkeltöchtern und zwei Urenkelinnen weiter: eine fast schon unverschämte demografische Ordentlichkeit. Erzählerisch leben sie in der Erinnerung weiter, und der traut der eine mehr, der andere weniger. Mein Bruder äußerte sein Misstrauen gegen diese Fähigkeit zum ersten Mal, als ich ihn fragte, was wir zu Hause so gegessen hätten. Nachdem er mir Porridge, Speck und dergleichen
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