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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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bestätigt hatte, fuhr er fort:
    Zumindest habe ich es so in Erinnerung. Aber du erinnerst dich bestimmt anders, und ich halte nicht viel vom Ge dächtnis als Wegweiser in die Vergangenheit. 1977 lernte ich meinen Kollegen und Freund Jacques Brunschwig ken nen. Das war bei einer Tagung in Chantilly. Ich hatte den Bahnhof verpasst und stieg in Créteil aus, nahm von dort ein (sehr teures) Taxi und traf mit Verspätung am Tagungs ort ein, wo Jacques mich in Empfang nahm. All das habe ich wunderbar klar in Erinnerung. In einem Interview, das in seiner Festschrift veröffentlicht wurde, spricht Jacques auch ein bisschen über seine Freunde. Er beschreibt unser erstes Zusammentreffen im Jahre 1977 auf einer Tagung in Chantilly: Er hat mich am Bahnhof abgeholt und sofort er kannt, als ich aus dem Zug stieg. All das hat er wunderbar klar in Erinnerung.
    Nun ja, mag man denken, so ist das eben bei Berufsphilosophen: Die sind so mit ihren abstrakten Theorien beschäftigt, dass sie nicht mitkriegen, auf welchem Bahnhof sie sich befinden, geschweige denn, was in der nichtabstrakten Welt vor sich geht, die wir anderen bewohnen. Der französische Schriftsteller Jules Renard stellte einmal die Vermutung an, Menschen mit einem außergewöhnlich guten Gedächtnis könnten vielleicht keine allgemeinen Ideen haben. Wenn das stimmt, ist mein Bruder wohl für das unzuverlässige Gedächtnis und die allgemeinen Ideen zuständig, ich hingegen für das verlässliche Gedächtnis und die konkreten Ideen.
    Ich kann mich dabei auch auf die Familienurkunden in der flachen Schublade berufen. Da liegen zum Beispiel die Ergebnisse meines O-Level-Examens, das ich mit fünfzehn ablegte. Die Erinnerung hätte mir bestimmt nicht verraten, dass meine beste Note die in Mathematik war und die schlechteste peinlicherweise in Englisch. 77 von 100 Punkten für sprachliche Fähigkeiten und beschämende 25 von 50 für den englischen Aufsatz.
    Meine zweitschlechteste Zensur bekam ich – nicht sonderlich überraschend – in Naturwissenschaften. Im »Biologie«-Teil dieser Prüfung musste man etwa den Querschnitt einer Tomate zeichnen und den Befruchtungsvorgang beschreiben, mit dem sich Stempel und Staubgefäß vergnügen. Viel weiter kamen wir zu Hause auch nicht: Elterliche pudeur verdoppelte das Schweigen des Lehrplans. Infolgedessen wuchs ich ohne rechte Vorstellung von den Körperfunktionen heran; was ich von sexuellen Dingen verstand, hatte die rege Unausgewogenheit eines schwesterlosen Autodidakten auf einer reinen Jungenschule; und obwohl ich meine graduellen geistigen Fortschritte auf Schule und Universität meinem Gehirn verdankte, hatte ich keinen blassen Schimmer, wie dieses Organ funktionierte. Ich wurde in der gedankenlosen Annahme erwachsen, man brauche zum Leben nicht mehr von der Biologie des Menschen zu verstehen als von Automechanik zum Autofahren. Für den Fall der Fälle gab es ja Krankenhäuser und Werkstätten.
    Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich erfuhr, dass meine Körperzellen nicht ein Leben lang halten, sondern sich in gewissen Abständen erneuern würden (obwohl, man konnte doch aus Ersatzteilen ein neues Auto zusammenbauen, oder nicht?). Wie oft so eine Renovierung stattfand, war mir nicht klar, aber vor allem erlaubte das Wissen um die Zellerneuerung Witze wie »Sie war nicht mehr die Frau, in die er sich verliebt hatte«. Panik empfand ich deswegen kaum: Schließlich mussten auch meine Eltern und Großeltern eine, wenn nicht gar zwei dieser Auffrischungen durchgemacht haben und hatten dabei offenbar keine seismische Erschütterung erlitten; ja, sie blieben nur allzu beharrlich sie selbst. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich auf die Idee gekommen wäre, auch das Gehirn könnte ein Körperteil sein und daher müssten dort oben dieselben Regeln gelten. Vielleicht hätte mir eher die Entdeckung Angst gemacht, dass die molekulare Grundstruktur des Gehirns sich beileibe nicht brav erneuert, wann immer es nötig ist, sondern überhaupt unglaublich instabil ist; dass Fette und Eiweißstoffe beinahe sofort nach ihrer Entstehung zerfallen; dass jedes Molekül um eine Synapse herum im Stundentakt und einige andere im Minutentakt ausgetauscht werden. Ja, das Gehirn, das Sie noch letztes Jahr hatten, wurde inzwischen viele Male neu geschaffen.
    In der Kindheit ist das Gedächtnis – jedenfalls meiner Erinnerung nach – kaum ein Problem. Nicht nur, weil zwischen Ereignis und Evokation weniger Zeit vergangen ist, sondern

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