Nichts, was man fürchten müsste
nennt die Religion »einen grausamen Schwindel«, räumt aber ein, dass er »nichts dagegen hätte, wenn sie wahr wäre«. In früheren Jahrzehnten hätte das zu einer freundlichen Hänselei unseres katholischen Teilnehmers geführt, jetzt aber herrscht das Gefühl vor, wir anderen seien der Vergessenheit, an die wir glauben, viel näher, während er zumindest eine geringe, bescheidene Hoffnung auf Erlösung und Himmel hat. Meinem Eindruck nach – darüber wird allerdings nicht abgestimmt – beneiden wir ihn insgeheim. Wir sind nicht gläubig, wir haben jahrzehntelang, in manchen Fällen mehr als ein halbes Jahrhundert, im Unglauben verharrt; aber was wir da vor uns sehen, gefällt uns nicht, und wir können auch nicht recht damit umgehen.
Ich weiß nicht, ob P. ein Zitat von Jules Renard tröstlich oder erschreckend fände ( Tagebücher, 26 . Januar 1906 ): »Ich will gern alles glauben, was du mir nahelegst, doch die Gerechtigkeit dieser Welt kann mich nicht gerade beruhigen, was die Gerechtigkeit der nächsten angeht. Ich fürchte, Gott wird einfach weiter herumstümpern: Er heißt die Bösen im Himmelreich willkommen und schickt die Guten mit einem Fußtritt in die Hölle hinunter.« Doch das Dilemma meines Freundes P. – ich kenne sonst niemanden, der solch exakte und kummervolle Berechnungen über sein mögliches Leben nach dem Tode anstellt – lässt mich noch einmal überdenken, was ich immer allzu leichtfertig (und erst vor ein paar Seiten wieder) behauptet habe. Agnostiker und Atheisten, die sich die Religion von Außen anschauen, können einem Wischiwaschi-Credo wenig abgewinnen. Wozu glauben, wenn der Glaube nicht eine ernsthafte Sache ist, die man ernst nimmt – ernsthaft ernst –, wenn die Religion nicht das ganze Leben erfüllt, leitet, färbt und trägt? Doch »ernst« bedeutet in den meisten Religionen unweigerlich strafend. Und damit wünschen wir anderen, was wir schwerlich für uns selbst wünschen würden.
Ernsthaftigkeit: Ich wäre zum Beispiel noch in den 1840 er-Jahren nicht gern im Kirchenstaat zur Welt gekommen. Bildung wurde so wenig gefördert, dass nur zwei Prozent der Bevölkerung lesen konnten; Priester und Geheimpolizei hatten die ganze Macht; »Denker« aller Art galten als gefährlich; und »aus Argwohn gegen alles, was nicht aus dem Mittelalter stammte, verbot Gregor XVI. das Eindringen von Eisenbahnen und Telegrafen in sein Herrschaftsgebiet«. Nein, das klingt alles auf eine ganz falsche Art »ernsthaft«. Dann das 1864 von Pius IX. in seinem Syllabus der Irrtümer verordnete Weltbild, in dem er die gesamte Wissenschaft, Kultur und Erziehung der Kontrolle der Kirche unterwerfen wollte und Religionsfreiheit für andere Glaubensrichtungen ablehnte. Nein, das würde mir auch nicht gefallen. Erst verfolgen sie Schismatiker und Häretiker, dann andere Religionen, dann Leute wie mich. Und was die Stellung der Frau in den meisten Religionen angeht …
Die Religion tendiert zum Autoritarismus wie der Kapitalismus zum Monopol. Und wer glaubt, über Päpste ließe sich leicht herziehen – um nicht das Wort lästern zu gebrauchen –, der sollte an einen ihrer bekannten Feinde denken, den höchst unpäpstlichen Robespierre. Der Unbestechliche machte sich 1789 erstmals einen Namen, als er gegen das Luxusleben und die Verweltlichung der katholischen Kirche zu Felde zog. In einer Rede vor den Generalständen forderte er, die Priesterschaft solle sich wieder auf die Askese und Tugendhaftigkeit der frühen Christen besinnen und – was war naheliegender – all ihre Besitztümer verkaufen und den Erlös an die Armen verteilen. Die Revolution, so ließ er durchblicken, wäre dabei gern behilflich, falls sich die Kirche sträuben sollte.
Die meisten Revolutionsführer waren Atheisten oder eingefleischte Agnostiker, und der neue Staat schaffte den katholischen Gott und seine Repräsentanten vor Ort rasch ab. Robespierre jedoch war eine Ausnahme, ein Deist, der Atheismus bei einem im öffentlichen Leben stehenden Mann nachgerade für Irrsinn hielt. Sein theologisches Vokabular unterscheidet sich kaum vom politischen. Mit einem vollmundigen Ausdruck erklärte er, Atheismus sei aristokratisch, während die Vorstellung von einem höheren Wesen, das über die Unschuld der Menschen wacht und unsere Tugend bewahrt – und vermutlich Freude daran hat, wenn untugendhafte Köpfe rollen –, »durch und durch demokratisch« sei. Robespierre zitierte sogar (ernsthaft) Voltaires
Weitere Kostenlose Bücher