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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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gewechselt, das Personal wurde durch Umzug und Tod dezimiert. Jetzt sind noch sieben von uns übrig, der Älteste Mitte siebzig, der Jüngste Ende – grade noch Ende – fünfzig.
    Es ist die einzige reine Männerveranstaltung, an der ich wissentlich oder gern teilnehme. Sie findet nun nicht mehr einmal die Woche, sondern nur noch einmal im Jahr statt; manchmal ist es fast wie die Erinnerung an ein Ereignis. Auch der Ton hat sich mit den Jahren verändert. Es wird jetzt weniger gelärmt und mehr zugehört, weniger angegeben und rivalisiert, dafür mehr geneckt und Nachsicht geübt. Heute raucht niemand mehr oder kommt in der festen Absicht, sich zu betrinken, was früher anscheinend ein würdiges Ziel um seiner selbst willen war. Wir brauchen einen separaten Raum, nicht weil wir uns wichtig machen wollten oder Angst hätten, Lauscher könnten uns unsere besten Formulierungen stehlen, sondern weil die Hälfte von uns taub ist – einige bekennen sich dazu und stöpseln beim Hinsetzen das Hörgerät ein, andere mögen es bislang noch nicht zugeben. Uns gehen die Haare aus, wir brauchen eine Brille, unsere Prostata schwillt allmählich an, und die Toilettenspülung auf dem Treppenabsatz bekommt gut zu tun. Aber alles in allem sind wir frohgemut, und alle arbeiten noch.
    Die Unterhaltung bewegt sich in vertrauten Bahnen: Klatsch und Tratsch, Verlagsbetrieb, Literaturkritik, Musik, Filme, Politik (einige haben den rituellen Rechtsruck mitgemacht). Es ist kein Zitronentisch, und soweit ich mich erinnere, wurde hier nie über den Tod als allgemeines Thema diskutiert. Übrigens auch nicht über Religion, obwohl einer von uns, P., römisch-katholisch ist. Jahrelang konnte man sich darauf verlassen, dass er die unbequemen, unterschwellig moralischen Fragen stellte. Als einer der Teilnehmer, der sich früher kein Abenteuer entgehen ließ, darüber nachsann, wie treu er in letzter Zeit geworden war, unterbrach ihn P. mit der Frage: »Meinst du, das ist Liebe oder eher das Alter?« (und erhielt die Antwort, es sei wohl – leider – das Alter).
    Diesmal aber haben wir eine Grundsatzfrage, zu der wir P.’s Meinung hören müssen. Der neue – deutsche – Papst hat soeben die Abschaffung der Vorhölle verkündet. Zunächst brauchen wir eine Klarstellung: was und wo das war, wer dort hinkam, und wer, wenn überhaupt, wieder herausgelassen wurde. Wir machen einen kurzen Abstecher in die Malerei und zu Mantegna (obwohl die Vorhölle eigentlich nie ein beliebtes Sujet war und der Verlust für alle noch lebenden katholischen Maler wahrscheinlich leicht zu verschmerzen ist). Wir stellen fest, wie unbeständig diese letzten Bestimmungsorte sind: Selbst die Hölle musste im Laufe der Zeit einen Verlust an Wahrscheinlichkeit wie auch Teuflischkeit hinnehmen. Wir kommen freundschaftlich überein, dass Sartres Spruch »Die Hölle, das sind die anderen« Unsinn ist. Doch vor allem wollen wir von P. wissen, ob und wie sehr er an die Realität solcher Bestimmungsorte glaubt, und insbesondere, ob er an den Himmel glaubt. »Ja«, antwortet er. »Ich hoffe es. Ich hoffe, es gibt einen Himmel.« Doch ihm bietet dieser Glaube beileibe nicht unmittelbar Trost. Er erläutert, es sei ihm ein schmerzlicher Gedanke, dass er, falls es die Ewigkeit und den Himmel seiner Religion gebe, womöglich von seinen vier Kindern getrennt werde, die sich allesamt von dem Glauben losgesagt haben, in dem sie erzogen wurden.
    Und das ist noch nicht alles: Er muss auch damit rechnen, von seiner ihm seit über vierzig Jahren angetrauten Ehefrau getrennt zu werden. Man müsse aber, sagt er, auf göttliche Gnade hoffen. Es sei überhaupt nicht sicher, dass offenkundig Gläubige zwangsläufig erlöst würden oder dass Ungläubige und Renegaten aufgrund ihrer guten Taten nicht wieder mit ihren gläubigen, wenn auch bei Weitem nicht perfekten Ehegatten und Vorfahren vereint würden. Dann schiebt P. ein mir bis dato unbekanntes eheliches Detail nach. Seine Frau E. wurde anglikanisch erzogen und als dreizehnjähriges Schulmädchen – ähnlich wie Daniel – in die atheistische Löwengrube des Philosophen A. J. Ayer geschickt und bei ihm einquartiert. Dort verlor sie rasch ihren Glauben, und hernach konnte das Vorbild ihres Ehemanns selbst in vierzig Jahren nichts an ihrem Agnostizismus ändern.
    An der Stelle wird zu einer Abstimmung über den Glauben an ein Leben nach dem Tode aufgerufen. Fünfdreiviertel der anderen sechs votieren mit Nein; der Bruchteilwähler

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