Nichts, was man fürchten müsste
(ironisches) Diktum, wenn es Gott nicht gäbe, müsse man ihn erfinden. In Anbetracht dessen möchte man meinen, die Revolution hätte bei der Einführung eines neuzeitlichen Glaubenssystems den Extremismus des früheren tunlichst vermieden, wäre rational, pragmatisch, sogar liberal gewesen. Doch was kam bei der Erfindung eines funkelnagelneuen höheren Wesens heraus? Am Anfang der Revolution ließ Robespierre Priester niedermetzeln, an ihrem Ende Atheisten.
Mit Anfang zwanzig las ich viel Somerset Maugham. Ich bewunderte den klarsichtigen Pessimismus und die wechselnden Schauplätze seiner Erzählungen und Romane wie auch seine einleuchtenden Reflexionen über Kunst und Leben in Büchern wie Die halbe Wahrheit und Aus mei nem Notizbuch. Es war mir ein Vergnügen, mich von seinem wahrheitsträchtigen, klugen Zynismus aufrütteln und verblüffen zu lassen. Um sein Geld, seine Hausjacken und sein Haus an der Riviera beneidete ich ihn nicht (hätte allerdings nichts gegen seine Kunstsammlung einzuwen den gehabt), wohl aber um seine Weltkenntnis. Ich selbst besaß so wenig davon und schämte mich meiner Unwissenheit. In meinem zweiten Semester in Oxford hatte ich beschlossen, die modernen Fremdsprachen zugunsten des »ernsthafteren« Studiums der Philosophie und Psychologie aufzugeben. Mein Französischtutor, ein freundlicher Mallarmé-Forscher, erkundigte sich höflich nach meinen Gründen. Ich nannte ihm zwei. Der erste war prosaisch (im wörtlichen Sinn – die allwöchentliche Plackerei, englische Prosabrocken ins Französische zu übertragen und umgekehrt), der zweite stichhaltiger. Wo sollte ich, fragte ich ihn, ein Verständnis für oder eine vernünftige Meinung zu einem Stück wie Phädra hernehmen, wenn mir die dort geschilderten ungestümen Emotionen aus eigener Erfahrung auch nicht annähernd bekannt waren? Er sah mich mit einem schmerzlichen Gelehrtenlächeln an. »Ach, wer von uns könnte das je von sich behaupten?«
Damals besaß ich eine Schachtel mit grünen Karteikarten, auf die ich bewahrenswerte Epigramme, geistreiche Bemerkungen, Dialogfetzen und Weisheiten abschrieb. Einige davon erscheinen mir heute wie die oberflächlich bestechenden Verallgemeinerungen, die sich die Jugend so gern zu eigen macht (was aber wenig verwunderlich ist); allerdings findet sich dort auch dieser Satz aus einer französischen Quelle: »Der Rat der Alten ist wie die Wintersonne: Sie spendet Licht, aber sie wärmt uns nicht.« Da ich nun in dem Alter bin, in dem man anderen gern Ratschläge erteilt, halte ich das für eine tiefgründige Wahrheit. Außerdem stehen da zwei Weisheiten von Maugham, die noch Jahre in mir nachklangen, wahrscheinlich deshalb, weil ich immer wieder dagegen an argumentierte. Die erste ist die Behauptung, Schönheit sei langweilig. Die zweite, die (wie mir eine grüne Karteikarte verrät) aus Kapitel 77 der Halben Wahrheit stammt, lautet: »Die große Tragödie des Lebens besteht nicht darin, dass Menschen sterben, sondern dass sie aufhören zu lieben.« Ich weiß nicht mehr, was ich damals davon hielt, es könnte aber gut sein, dass ich dachte: Du solltest nicht von dir auf andere schließen, alter Mann.
Maugham war ein Agnostiker, für den eine humorvolle Resignation die beste Lebenseinstellung war. In Die halbe Wahrheit handelt er die verschiedenen unzulänglichen Argumente ab – ex ratione causae efficientis, ex gubernatione re rum, ex gradibus –, die andere von der Realität Gottes überzeugt haben. Einleuchtender als diese erscheint ihm das lange Zeit aus der Mode gekommene argumentum e con sensu gentium, das Argument aus allgemeiner Zustimmung. Seit Anbeginn der Menschheit hat die überwältigende Mehrheit in den verschiedensten Kulturen, die größten und klügsten Köpfe eingeschlossen, immer einen Glauben an irgendeinen Gott gehegt. Wie konnte ein derart verbreiteter Instinkt bestehen, ohne dass es eine Möglichkeit zu seiner Befriedigung gegeben hätte?
Trotz all seiner praktischen Weisheit und Weltkenntnis – und trotz all seines Ruhms und Geldes – konnte sich Maugham die Lebenseinstellung humorvoller Resignation nicht bewahren. Im Alter kannte er wenig Heiterkeit, nur noch Rachsucht, Verjüngungskuren und bösartige Testamentsänderungen. Sein Körper wurde vital und lüstern in Gang gehalten, während sein Herz sich verhärtete und seine Geisteskraft nachließ; er verfiel zu einem hohlen reichen Mann. Hätte er seinem eigenen (winterlichen, nicht wärmenden) Ratschlag
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