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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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etwas hinzufügen wollen, dann vielleicht dies: Die weitere Tragödie des Lebens besteht darin, dass wir nicht rechtzeitig sterben.
    Doch als Maugham noch bei klarem Verstand war, arran gierte er eine Begegnung, von der leider kein detailliertes Protokoll oder auch nur ein grober Überblick überliefert ist. In frommen Zeiten ließen Prinzen und reiche Bürger oft Priester und Prälaten zu sich kommen, um sich der Gewissheit des Himmels und der Belohnungen zu versichern, die ihre Gebete und Geldspenden ihnen eingebracht hatten. Nun machte der Agnostiker Maugham das Gegenteil: Er rief A. J. Ayer zu sich, den intellektuell und gesellschaftlich angesagtesten Philosophen der Zeit, um sich versichern zu lassen, dass der Tod tatsächlich endgültig ist und danach nichts und das Nichts kommt. Das Bedürfnis nach einer solchen Versicherung erklärt sich vielleicht aus einer Stelle in Die halbe Wahrheit. Dort schildert Maugham, wie er als junger Mann den Glauben an Gott verlor, aber dennoch geraume Zeit weiter in instinktiver Furcht vor der Hölle lebte und diese Furcht erst nach einem weiteren metaphysischen Schulterzucken abschütteln konnte. Womöglich hatte er immer noch weiche Knie.
    Im April 1961 trafen Ayer und seine Frau, die Schriftstellerin Dee Wells, zu diesem höchst merkwürdigen und bewegenden Gratiswochenende in der Villa Mauresque ein. In einer Kurzgeschichte oder einem Bühnenstück würden die beiden Hauptfiguren sich jetzt wohl erst einmal gegenseitig aushorchen und versuchen, die Regeln für die Begegnung festzulegen; darauf würde sich eine effektvolle Szene in Maughams Arbeitszimmer aufbauen, vielleicht am zweiten Abend nach dem Essen. Cognacgläser werden gefüllt, geschwenkt und beschnuppert; vielleicht statten wir Maugham mit einer Zigarre aus, Ayer mit einer Schachtel französischer Zigaretten in gelbem Papier. Der Romancier zählt die Gründe auf, warum er seit Langem nicht mehr an Gott glaubt; der Philosoph bestätigt ihre Richtigkeit. Aus Sentimentalität führt der Romancier noch das argumentum e consensu gentium an, das der Philosoph dann lächelnd zerpflückt. Der Romancier wirft die Frage auf, ob es nicht paradoxerweise auch ohne Gott noch eine Hölle geben könnte; der Philosoph stellt das richtig – und denkt sich im Stillen, diese Furcht könne auf einen Rest homosexueller Schuldgefühle hindeuten. Cognac wird nachgeschenkt, und dann legt der Philosoph zur Abrundung seiner Ausführungen (und Rechtfertigung seines Flugtickets) die letzten und logischsten Beweise für die Nichtexistenz Gottes und die Endlichkeit des Lebens dar. Der Romancier erhebt sich leicht schwankend, wischt etwas Asche von seiner Hausjacke und schlägt vor, sich wieder zu den Damen zu begeben. In deren Gesellschaft tut Maugham dann seine tiefe Befriedigung kund und wird für den Rest des Abends wieder fröhlich, fast schon ausgelassen; die Ayers wechseln verständnisinnige Blicke.
    (Ein professioneller Philosoph würde gegen diese imaginäre Szene womöglich einwenden, Ayers tatsächlicher Standpunkt sei hier grob vulgarisiert worden. Der Wykeham-Professor für Logik hielt jedes Sprechen über Religion dem Wesen nach für unverifizierbar; daher hatte die Aussage »Es gibt keinen Gott« für ihn ebenso wenig Bedeutung wie der Satz »Es gibt einen Gott«, da sich beides philosophisch nicht beweisen lässt. Der Schriftsteller könnte dann die literarische Notwendigkeit ins Feld führen und außerdem geltend machen, dass Ayer hier zu einem Laien und Wohltäter sprach und sich daher mit formalen Spitzfindigkeiten zurückgehalten haben mochte.)
    Doch da es hier um das wahre Leben geht oder vielmehr um das, was für Biografen davon übrig bleibt, haben wir keine Belege für eine solche Privataudienz. Vielleicht gab es nur eine muntere, freundschaftliche Beruhigung am Frühstückstisch. Das ergäbe vielleicht eine bessere Kurzgeschichte (aber kein besseres Bühnenstück): das große Thema beim Klappern der Messer mit ein paar Redensarten abgehandelt, womöglich zu einer kontrapunktischen Paralleldiskussion über die Arrangements für die geselligen Unternehmungen des Tages: wer in Nizza einkaufen will, und wo genau an der Grande Corniche der Maugham’sche Rolls Royce sie zum Mittagessen absetzen soll. Auf jeden Fall fand das gewünschte Gespräch irgendwie statt, Ayer und seine Frau kehrten nach London zurück, und Maugham ging nach dieser außergewöhnlichen säkularen Absolution weiter seinem Tod entgegen.

    Vor einigen

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