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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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zögerlichen Zuversicht der Kirche von England. Vor ein paar Monaten war ich bei Nachbarn zum Essen eingeladen. Wir saßen zu zwölft um einen langen Küchentisch, der auch für Jesus und seine Jünger gereicht hätte. Es wurden mehrere Gespräche gleichzeitig geführt, als plötzlich ein paar Plätze weiter ein Streit ausbrach und ein junger Mann (der Sohn des Hauses) sarkastisch ausrief: »Aber warum sollte Gott das für seinen Sohn tun und für uns andere nicht?« Unwillkürlich riss ich mich grob aus meiner eigenen Unterhaltung heraus und schrie zurück: »Weil er Gott ist, Herrgott noch mal!« Die Sache zog Kreise; mein Gastgeber C., ein alter Freund und notorischer Rationalist, sprang seinem Sohn bei: »Es gibt ein Buch darüber, dass Menschen die Kreuzigung überlebt haben; manchmal waren sie gar nicht tot, wenn man sie abnahm. Die Zenturionen waren bestechlich.« Ich: »Was hat denn das damit zu tun?« Er (verzweifelt rationalistisch): »Es geht darum, dass es nicht geschehen sein kann. Es kann nicht geschehen sein.« Ich (angesichts dieser Rationalität rational verzweifelt): »Aber das ist es doch gerade – dass es nicht geschehen sein kann. Der Punkt ist, für Christen ist es so geschehen.« Ich hätte hinzufügen können, dass sein Argument so alt war wie … na, mindestens so alt wie Madame Bovary, wo Homais, der bigotte Materialist, den Gedanken der Auferstehung nicht nur für »absurd« erklärt, sondern auch »allen physikalischen Gesetzen widersprechend«.
    Solche wissenschaftlichen Einwände und »Erklärungen« – Jesus ist nicht »wirklich« über das Wasser gewandelt, sondern über eine dünne Eisdecke, die unter bestimmten meteorologischen Bedingungen … – hätten mich in meiner Jugend überzeugt. Jetzt erscheinen sie mir recht irrelevant. Wie Strawinski sagte, bedeutet ein logisch begründeter Beweis (wie auch eine ebensolche Widerlegung) in der Religion nicht mehr als Kontrapunkt-Übungen in der Musik. Glauben heißt, genau das für wahr zu halten, was allen bekannten Regeln nach »nicht geschehen sein kann«. Die Jungfrauengeburt, die Auferstehung, Mohammeds Aufstieg in den Himmel, bei dem er einen Fußabdruck im Fels hinterlässt, ein Leben nach dem Tode. Nach allem, was wir wissen und verstehen, kann es nicht geschehen sein. Aber es ist geschehen. Oder es wird geschehen. (Oder natürlich, es ist ganz sicher nicht geschehen und wird auch gewiss nicht geschehen.)
    Als Schriftsteller muss man bestimmte Standardantworten auf bestimmte Standardfragen parat haben. Wenn ich nach der Funktion des Romans gefragt werde, antworte ich gern: »Er erzählt schöne, wohlgestaltete Lügen, in denen harte, exakte Wahrheiten stecken.« Für uns ist die Aussetzung der Ungläubigkeit eine mentale Voraussetzung für die Freude an Literatur, Theater, Film und gegenständlicher Malerei. Es sind nur Worte auf einem Blatt Papier, Schauspieler auf einer Bühne oder Leinwand, Farben auf einem Stück Stoff: Es gibt diese Menschen nicht, hat sie nie gegeben, und wenn doch, dann sind dies bloße Nachbildungen, vorübergehend überzeugende Trugbilder. Doch während wir lesen, während unsere Augen schauen, glauben wir, dass Emma Bovary lebt und stirbt, dass Hamlet Laertes tötet, dass dieser grüblerische Mann im Pelz und seine in Brokat gewandete Frau aus ihrem Porträt von Lotto heraustreten und im Brescia-Italienisch des sechzehnten Jahrhunderts zu uns sprechen könnten. Es ist nie geschehen, es kann nie geschehen sein, aber wir glauben, dass es geschah und geschehen könnte. Von dieser Aussetzung der Ungläubigkeit ist es kein weiter Schritt zu einem aktiven Bekenntnis zum Glauben. Damit will ich nicht unterstellen, die Lektüre fiktionaler Literatur könne die Menschen für die Religion weich klopfen. Im Gegenteil – ganz im Gegenteil: Die Religionen waren die ersten großen Erfindungen fiktionaler Autoren. Eine überzeugende Darstellung und eine plausible Erklärung der Welt für begreiflicherweise verwirrte Gemüter. Eine schöne, wohlgestaltete Geschichte, in der harte, exakte Lügen stecken.
    Eine andere Woche, ein anderes Essen: Sieben Schriftsteller treffen sich im oberen Stock eines ungarischen Restaurants in Soho. Dieses freitägliche Mittagessen wurde vor dreißig oder mehr Jahren ins Leben gerufen: eine lärmende, streitlustige, verräucherte, trinkfreudige Versammlung von Journalisten, Romanciers, Dichtern und Karikaturisten am Ende der Arbeitswoche. Die Lokalität hat im Laufe der Zeit mehrfach

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