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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Jahren habe ich das Tagebuch übersetzt, das Alphonse Daudet führte, als ihm klar wurde, dass seine Syphilis das dritte Stadium erreicht hatte und ihm unweigerlich den Tod bringen würde. An einer Stelle beginnt er, sich von seinen geliebten Menschen zu verabschieden: »Lebe wohl Frau, Familie, lebt wohl, Kinder, Dinge meines Herzens …« Und dann fährt er fort: »Lebe wohl Ich, heiß geliebtes Ich, nunmehr so vage, so verschwommen.« Ich weiß nicht recht, ob wir uns im Vorhinein selbst Lebewohl sagen können. Können wir dieses unverwüstliche Gefühl der Besonderheit verlieren oder zumindest verringern, bis nicht mehr so viel davon bleibt, das verschwinden, das vermisst werden kann? Das Paradoxe daran ist natürlich, dass es eben dieses »Ich« ist, das die Verringerung seiner selbst betreibt. Wie ja auch das Gehirn das einzige Instrument ist, mit dem wir die Gehirntätigkeit untersuchen können. Wie auch die Theorie vom Tod des Autors zwangsläufig von einem Autor verkündet wurde.
    Das »Ich« verlieren oder zumindest verringern. Zwei Tricks bieten sich an. Erstens kann man sich fragen, wie viel dieses »Ich« auf der Skala der Dinge wert ist. Warum sollte das Universum dessen andauernde Existenz überhaupt brauchen? Diesem »Ich« waren bereits mehrere Jahrzehnte Lebenszeit vergönnt, und in den meisten Fällen hat es sich fortgepflanzt; wie bedeutsam müsste es da sein, um weitere Jahre zu rechtfertigen? Außerdem ist zu bedenken, wie langweilig dieses »Ich« für mich und andere würde, wenn es einfach immer weiter fortbestünde (siehe Bernard Shaw, Verfasser von Zurück zu Methusalem; siehe auch Bernard Shaw, alter Mann, unverbesserlicher Poseur und penetranter Selbstvermarkter). Zweiter Trick: Man sehe den Tod des »Ich« mit den Augen der anderen. Nicht derer, die einen betrauern und vermissen werden, oder derer, die vielleicht von diesem Tod erfahren und kurz das Glas erheben; oder auch nur derer, die womöglich »Gut so!« oder »Hab ihn sowieso nie leiden können« oder »Wahnsinnig überschätzt« sagen. Nein, man sehe den Tod des »Ich« durch die Brille derer, die noch nie von einem gehört haben – und das ist schließlich fast jeder. Unbekannter gestorben, von wenigen betrauert. Dieser Nachruf ist uns in den Augen der restlichen Welt gewiss. Wer sind wir denn, dass wir unserer Selbstverliebtheit frönen und so ein Theater machen?
    Für kurze Zeit mag diese düstere Weisheit überzeugen. Fast hätte ich selbst daran geglaubt, während ich den obigen Absatz schrieb. Nur hat die Gleichgültigkeit der Welt der Selbstverliebtheit eines Menschen höchst selten etwas anhaben können. Nur deckt sich das Urteil des Universums über unseren Wert höchst selten mit unserem eigenen. Nur können wir nicht recht glauben, dass wir uns selbst und andere langweilen würden, wenn wir weiterlebten (man kann doch noch so viele Fremdsprachen und Musikinstrumente lernen, sich in so vielen Karrieren versuchen, so viele Länder bewohnen und Menschen lieben, und danach bleibt immer noch Tango und Langlauf und Aquarellmalerei …). Der andere Haken ist, dass schon das Nachdenken über die eigene Individualität, die hier vorausschauend betrauert wird, eben diese Individualität bestärkt; man gräbt sich dabei in ein immer tieferes Loch, das schließlich zum eigenen Grab wird. Auch die Kunst, die ich ausübe, steht einem ruhigen Lebewohl an ein verringertes Ich entgegen. Egal, welcher Ästhetik ein Schriftsteller anhängt – ob subjektiv und autobiografisch oder objektiv und den Autor verbergend –, das Ich muss gestärkt und klar definiert werden, um das Werk zu schaffen. Daher könnte man sagen, indem ich diesen Satz niederschreibe, mache ich es mir selbst noch ein bisschen schwerer zu sterben.
    Man könnte aber auch sagen: Na los, bring es hinter dich – verzieh dich und stirb trotzdem mitsamt deinem dämlichen Künstler-Ich. Es ist das letzte Weihnachten vor meinem sechzigsten Geburtstag, und vor ein paar Wochen hat die Website belief.net (»Lerne alleinstehende Christen in deiner Gegend kennen«; »Täglich Tipps für Gesundheit und Glück im Posteingang«) Richard Dawkins – dem die Abonnenten der Website den Spitznamen »Mister Sinnlosigkeit« verpasst haben – nach der Verzweiflung befragt, die manch einen angesichts der Weiterungen des Darwinismus befällt. Er antwortet: »Wenn das Menschen wirklich in Verzweiflung stürzt, dann ist das Pech. Das Universum schuldet uns weder Mitleid noch Trost; es

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