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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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vernebelt hatten? Die Geschichte ist wahr, nicht zuletzt deshalb, weil sie für uns wahr sein soll, wahr sein muss.
    Ein echter Pilger, der fünfhundert Jahre vor Beyle in die Kirche Santa Croce kam, hätte Giottos eben vollendeten Freskenzyklus über das Leben des Heiligen Franziskus von Assisi als eine Kunst angesehen, die ihm die absolute Wahrheit verkündete und ihm in dieser wie auch der jenseitigen Welt Erlösung bringen konnte. Dasselbe hätte für alle gegolten, die zum ersten Mal Dante lasen oder Palestrina hörten. Umso schöner, weil wahr, und umso wahrer, weil schön, und diese freudvollen Multiplikationen ließen sich mit der Unendlichkeit paralleler Spiegel fortführen. In einer säkularen Welt, in der wir vor großen Kunstwerken rein metaphorisch die Knie beugen und uns bekreuzigen, neigen wir zu dem Glauben, die Kunst verkünde uns die Wahrheit – was in einem relativistischen Universum bedeutet, mehr Wahrheit als alles andere –, und diese Kunst könne uns wiederum erlösen, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, das heißt erleuchten, bewegen, erbauen, sogar heilen – aber nur in dieser Welt. Wie war es früher doch so viel einfacher, und nicht nur grammatikalisch.
    Flaubert warf Louise Colet vor, sie habe »die Liebe zur Kunst«, nicht aber »die religiöse Hingabe an die Kunst«. Für manche ist die Kunst ein psychologischer Religionsersatz, der den beschränkten Wesen, die nicht mehr vom Himmel träumen, noch eine über sie selbst hinausgehende Welt erschließt. Ein moderner Kritiker, der Cambridge-Professor S., ist der Meinung, die Kunst sei ihrem Wesen nach religiös, da der Künstler nach Unsterblichkeit strebe, indem er die »banale Demokratie des Todes« vermeide. Diese vollmundige Aussage wird von dem Oxford-Professor C. mit dem Argument widerlegt, selbst die größte Kunst habe in der geologischen Zeitrechnung nicht länger als einen Wimpernschlag Bestand. Ich glaube, beide Aussagen sind miteinander kompatibel, da die Beweggründe des Künstlers sich womöglich über die nachfolgende kosmische Realität hinwegsetzen. Doch auch Professor C. hat eine vollmundige Aussage zu bieten, und zwar dass »die Religion der Kunst die Menschen schlechter macht, da sie die Verachtung derer fördert, die als Kunstbanausen gelten«. Da mag etwas dran sein, auch wenn das größere Problem, zumindest in Großbritannien, in der Verachtung aus der umgekehrten Richtung besteht: die Verachtung der selbstgefälligen Spießer für praktizierende Künstler und Kunstliebhaber. Und ob die dadurch zu besseren Menschen werden?
    »Die religiöse Hingabe an die Kunst«: Damit meinte Flaubert die engagierte Ausübung von Kunst, nicht deren snobistische Anbetung; die mönchische Lebensweise, die sie verlangt, das härene Hemd und die stille, einsame Besinnung vor der Tat. Will man Kunst mit Religion vergleichen, dann ist sie sicherlich keine Religion der traditionellen katholischen Art mit päpstlicher Autorität oben und gehorsamer Knechtschaft unten. Sie ist eher wie die Kirche der Frühzeit: schöpferisch, chaotisch und schismatisch. Auf jeden Bischof kommt ein Gotteslästerer, auf jedes Dogma ein Häretiker. Heute wimmelt es in der Kunst wie früher in der Religion von falschen Propheten und falschen Göttern. Es gibt (was Professor C. missbilligt) Hohepriester der Kunst, die den Pöbel ausschließen wollen und sich in hermetischem Intellektualismus und unzugänglicher Raffinesse verlieren. Auf der anderen Seite gibt es (was wiederum Professor S. missbilligt) Unaufrichtigkeit, Merkantilismus und infantilen Populismus; Künstler, die sich in Schmeicheleien ergehen und Kompromisse schließen, die der Beliebtheit (und dem Geld) nachjagen wie Politiker. Rein oder unrein, hochgesinnt oder korrupt, irgendwann werden sie alle – wie jeder junge Mann und jede Jungfrau, goldgehaart – zu Staub und ihre Kunst wenig später, wenn nicht schon früher, auch. Dennoch werden Kunst und Religion sich immer gegenseitig beschatten, denn beide beschwören dieselben abstrakten Begriffe herauf: Wahrheit, Ernsthaftigkeit, Fantasie, Mitgefühl, Moral und Transzendenz.

    Gott zu vermissen ist für mich etwa so, wie Engländer zu sein – ein Gefühl, das sich vor allem bei Angriffen einstellt. Wenn mein Land beschimpft wird, regt sich ein schlafender, um nicht zu sagen narkoleptischer Patriotismus in mir. Und wenn es um Gott geht, fühle ich mich von atheis tischem Absolutismus eher provoziert als etwa von der oft schalen,

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