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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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müsste.
    Sie sagen das schnell und beiläufig dahin. Und jetzt sagen wir das einmal langsam und mit anderer Betonung: »Da ist NICHTS, was man fürchten müsste.«
    Jules Renard: »Es gibt kein Wort, das so wahr, präzise und bedeutungsvoll ist wie das Wort ›nichts‹.«

    Wenn wir die Gedanken zu den Umständen unseres eigenen Todes schweifen lassen, wandern sie meist wie magnetisch angezogen zum schlimmsten oder besten Fall. Meine schlimmsten Vorstellungen drehen sich gewöhnlich um einen Zustand des Eingeschlossenseins, um Wasser und einen Zeitraum, in dem ich die Gewissheit der bevorstehenden Auslöschung ertragen muss. Zum Beispiel das Szenario der gekenterten Fähre: eine Luftblase, Dunkelheit, das langsame Steigen des Wassers, die Schreie anderer Sterblicher und der Kampf um den Rest an Atemluft. Es gibt auch eine einsame Variante davon: in den Kofferraum eines Autos (vielleicht meines eigenen) gequetscht, während die Leute, die mich gefangen halten, von einem Geldautomaten zum anderen fahren, und dann, wenn die Kreditkarte endlich zurückgewiesen wird, der schwindelerregende Fall von einem Flussufer oder einer Meeresklippe, der Aufprall und das gierige Glucksen des Wassers, das mich verschlingen will. Oder die analoge, wenn auch weniger wahrscheinliche Version in freier Natur: Ich werde von einem Krokodil erwischt und unter Wasser gezogen, verliere das Bewusstsein, komme auf einer Sandbank über dem Wasserspiegel im Nest des Krokodils wieder zu mir und erkenne, dass ich jetzt in der Speisekammer der Bestie liege. (Und so was kommt vor, falls jemand noch Zweifel hat.)
    Meine Fantasievorstellungen zum besten Fall handelten früher von einer Krankheit, die mir gerade genug Zeit und geistige Klarheit ließ, um noch ein letztes Buch zu schreiben – das Buch, das alle meine Gedanken über den Tod enthält. Obwohl ich nicht wusste, ob es Fiction oder Non-fiction werden würde, hatte ich den ersten Satz schon vor Jahren ausformuliert und niedergeschrieben: »Jetzt wollen wir mal die Sache mit dem Tod klären.« Doch welcher Arzt stellt einem schon eine Diagnose, die genau zu den eigenen literarischen Bedürfnissen passt? »Ich hab leider eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie.« – »Raus mit der Sprache, Doktor, ich muss es wissen. Wie lange?« – »Wie lange? Etwa 200 Seiten, würde ich sagen, vielleicht auch 250 , wenn Sie Glück haben oder schnell arbeiten.«
    Nein, so wird es nicht kommen, darum sollte das Buch lieber vor der Diagnose fertig sein. Natürlich gibt es auch eine dritte Möglichkeit (mit der ich mich seit der ersten Seite herumschlage): Man fängt mit dem Buch an, man hat fast die Hälfte geschafft – etwa bis hier, beispielsweise –, und dann bekommt man die Diagnose! Vielleicht tritt da die Handlung schon etwas auf der Stelle, also her mit den Schmerzen in der Brust, dem Ohnmachtsanfall, den Röntgenaufnahmen, der Computertomografie … Würde das nicht ein bisschen aufgesetzt wirken? (Beratung des Lesezirkels. »Ach, ich hab mir gleich gedacht, dass er am Ende stirbt, das heißt nach dem Ende – ihr nicht?« – »Nein, ich dachte, das ist alles nur Bluff. Ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt krank ist. Ich dachte, das ist vielleicht, wie heißt das noch gleich – Meta-Literatur?«)
    So wird es vermutlich auch nicht kommen. Wenn wir uns unser eigenes Sterben vorstellen, ob nun den besten oder den schlimmsten Fall, denken wir gern an ein Sterben bei klarem Verstand, ein Sterben, bei dem uns bewusst (nur allzu bewusst) ist, was da geschieht, wir uns noch verständlich machen und andere verstehen können. Wie gut können wir uns ein Sterben – und den langen Vorlauf zu dem eigentlichen Ereignis – im Zustand sprachlicher und geistiger Einschränkung vorstellen? Mit denselben Schmerzen und Ängsten wie vorher natürlich, jetzt aber mit einer zusätzlichen Ebene der Verwirrung. Nicht recht zu wissen, wer die anderen sind, nicht zu wissen, wer noch am Leben und wer schon tot ist, nicht zu wissen, wo man ist. (Und trotzdem eine Scheißangst zu haben.) Ich erinnere mich, wie ich eine ältere und demente Freundin im Krankenhaus besuchte. Mit ihrer leisen, sehr kultivierten Stimme, die mir einst sehr lieb war, sagte sie zu mir Sätze wie: »Ich bin überzeugt, dass du als einer der schlimmsten Verbrecher aller Zeiten in Erinnerung bleibst.« Wenn dann eine Schwester vorbeikam, schlug ihre Stimmung rasch um. »Aber die Dienstmädchen«, versicherte sie mir, »die sie

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