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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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erectus in seiner ganzen Größe, sapiens in seiner ganzen Weisheit –, ein Kerl, der nun selbst die Peitsche schwingt. Dieses Bild (ich habe es hier ein bisschen melodramatisch aufgebauscht – solche Erkenntnisse und Projektionen waren immer unsicher und behelfsmäßig) muss der Ahnung weichen, dass ich keineswegs die Peitsche schwinge, sondern das äußerste Ende der Peitsche bin und an einem langen, unentrinnbaren Geflecht von genetischem Material hänge, das ich weder loswerden noch bekämpfen kann. Vielleicht ist meine »Individualität« noch spürbar und genetisch beweisbar; aber vielleicht ist sie auch das genaue Gegenteil der eigenen Leistung, für die ich sie einst hielt.
    Das war das Paradox; nun kommt die Frage. Wir werden erwachsen; wir tauschen unser altes Staunen gegen ein neues ein – das Staunen über den blinden und zufälligen Prozess, der uns blind und zufällig erschaffen hat; statt uns zu deprimieren, wie das bei manch einem der Fall sein könnte, versetzt uns das in dieselbe Hochstimmung wie Dawkins; wir genießen, was Dawkins uns aufzählt als das, was das Leben lebenswert macht – Musik, Poesie, Sex, Liebe (und Wissenschaft) –, und üben uns vielleicht zugleich in der von Somerset Maugham empfohlenen humorvollen Resignation. Das alles tun wir, und fällt uns das Sterben dadurch leichter? Werden Sie besser sterben, werde ich besser sterben, wird Richard Dawkins besser sterben als unsere genetischen Vorfahren vor Hunderten oder Tausenden von Jahren? Dawkins äußerte die Hoffnung, wenn er sterben werde, sollte ihm das Leben am liebsten unter Vollnarkose herausgenommen werden, »ganz so, als wäre es ein entzündeter Blinddarm«. Das ist deutlich genug, wenn auch illegal; leider verweigert der Tod uns hartnäckig die Lösungen, die wir uns für uns selbst vorstellen.
    Vom medizinischen Standpunkt aus – und je nachdem, wo wir auf diesem Planeten leben – mögen wir durchaus besser und nicht ganz so wie die Hunde sterben. Das sollte man bedenken. Man sollte auch bedenken, was alles mit einem guten Sterben verwechselt werden könnte: zum Beispiel, dass man nichts bereut oder bedauert. Wenn wir unser Leben genossen, für unsere Angehörigen gesorgt haben und wenig Anlass zur Traurigkeit finden, wird es erträglicher, auf unser Leben zurückzublicken. Aber das ist etwas ganz anderes, als den Blick nach vorn zu richten auf das, was uns unmittelbar bevorsteht: vollkommene Vernichtung. Ob wir das je besser bewältigen?
    Ich sehe keinen Grund, warum wir das sollten. Ich sehe keinen Grund, warum unsere Cleverness oder Selbsterkenntnis die Lage besser und nicht schlechter machen sollte. Warum sollten die Gene, in deren stummer Knechtschaft wir leben, uns irgendeinen Schrecken ersparen? Welches Interesse hätten sie daran? Vermutlich fürchten wir den Tod nicht nur um seiner selbst willen, sondern weil das für uns nützlich ist – oder für unsere selbstsüchtigen Gene, die nicht weitergegeben werden, wenn wir den Tod nicht genügend fürchten, wenn wir auf die Tarnung des Tigers hereinfallen wie andere früher oder die bittere Pflanze essen, die unsere Geschmacksknospen uns zu meiden gelehrt haben (besser gesagt, die unsere Geschmacksknospen durch tödlichen Versuch und Irrtum selbst zu meiden gelernt haben). Welchen erdenklichen Nutzen oder Vorteil sollte unser Wohlbefinden auf dem Totenbett für diese neuen Herren haben?

    »Man muss seinem Schicksal ebenbürtig sein, soll heißen, ebenso gleichmütig. Man sagt ›So ist es! So ist es!‹, schaut in die schwarze Grube zu seinen Füßen hinab und bleibt dadurch ruhig.« Flauberts Erfahrungen mit dem In-die-Grube-Schauen begannen früh. Sein Vater war Krankenhauschirurg, die Familie wohnte über seinem Arbeitsplatz, Achille Flaubert kam oft vom Operationstisch direkt an den Esstisch. Gustave kletterte als Junge gern an einem Spalier hoch und schaute zu, wenn sein Vater Medizinstudenten zeigte, wie man Leichen seziert. Er sah von Fliegen bedeckte menschliche Körper und Studenten, die ihre brennende Zigarre gleichgültig auf den Gliedmaßen und Rümpfen ablegten, an denen sie herumschnippelten. Dann schaute Achille auf, entdeckte das Gesicht seines Sohns am Fenster und winkte ihn mit seinem Skalpell weg. Der junge Gustave war von einer spätromantischen Morbidität befallen, verlor aber nie das Bedürfnis und den Anspruch eines Realisten, dort hinzuschauen, wo andere den Blick abwandten. Dazu fühlte er sich als Mensch wie als

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