Nichts, was man fürchten müsste
Schriftsteller verpflichtet.
Im April 1848 , als Flaubert sechsundzwanzig Jahre alt war, starb sein literarischer Jugendfreund Alfred Le Poittevin. In einer eben erst entdeckten privaten Notiz hielt Flaubert fest, wie er diesen Tod betrachtete und sich selbst dabei zusah, wie er ihn betrachtete. Zwei Nächte hinter einander hielt er bei seinem Freund die Totenwache; er schnitt eine Haarlocke für Le Poittevins junge Witwe ab; er half mit, den Toten in ein Leichentuch zu hüllen; er roch den Gestank der Verwesung. Als die Bestatter mit dem Sarg kamen, küsste er seinen Freund auf die Schläfe. An diesen Moment erinnerte er sich noch zehn Jahre später: »Wer einmal einen Leichnam auf die Stirn geküsst hat, behält immer etwas auf den Lippen zurück, etwas leicht Bitteres, einen Nachgeschmack der Leere, den nichts vertreiben kann.«
So etwas habe ich nicht erlebt, nachdem ich meine Mutter auf die Stirn geküsst hatte; aber da war ich auch schon doppelt so alt wie Flaubert und hatte den Geschmack des Bitteren vielleicht schon auf den Lippen. Einundzwanzig Jahre nach Le Poittevins Tod starb Louis Bouilhet, der literarische Freund des erwachsenen Flaubert; wieder verfasste er eine private Notiz, in der er beschrieb, was er tat und empfand. Er war in Paris, als er die Nachricht erhielt; er kehrte nach Rouen zurück, ging zu Bouilhets Haus und nahm die Frau, mit der der verstorbene Dichter in eheähnlicher Gemeinschaft gelebt hatte, in die Arme. Man könnte meinen, die frühere Erfahrung hätte diese – wenn das Indie-Grube-Schauen funktioniert hatte – erträglicher gemacht. Doch Flaubert stellte fest, dass er es nicht ertragen konnte, den Freund, der ihm so nahegestanden hatte, dass er ihn einmal »meinen linken Hoden« nannte, anzuschauen, bei ihm zu wachen, ihn zu umarmen, einzuhüllen oder zu küssen. Er verbrachte die Nacht im Garten, wo er einige Stunden auf dem Erdboden schlief, und blieb seinem Freund fern, bis der geschlossene Sarg aus dem Haus getragen wurde. In seiner Notiz verglich er insbesondere seine Fähigkeit, sich mit diesen beiden Toden auseinanderzusetzen: »Ich habe mich nicht getraut, ihn zu sehen! Ich fühle mich schwächer als vor zwanzig Jahren … Ich habe überhaupt keine innere Robustheit. Ich fühle mich ausge laugt. « Das In-die-Grube-Schauen brachte Flaubert keine Ruhe, sondern nervöse Erschöpfung.
Als ich Daudets Aufzeichnungen über das Sterben übersetzte, meinten zwei Freunde unabhängig voneinander, das müsse doch eine deprimierende Arbeit sein. Ganz im Gegenteil: Ich fand dieses Beispiel eines wahren, erwachsenen In-die-Grube-Schauens – den präzisen Blick, das präzise Wort, das Vermeiden jeder Verherrlichung oder auch Trivialisierung des Todes – erfrischend. Als ich mit achtundfünfzig eine Sammlung von Kurzgeschichten über die weniger heiteren Aspekte des Alters herausbrachte, wurde ich gelegentlich gefragt, ob es nicht etwas voreilig sei, sich mit dergleichen zu beschäftigen. Als ich meiner guten Freundin (und genauen Leserin) H. die ersten fünfzig Seiten zeigte, fragte sie besorgt: »Ob das hilft?«
Ach, der therapeutisch-autobiografische Trugschluss. Solche Fragen sind sicher gut gemeint, aber ich kann sie so wenig leiden wie mein Bruder den hypothetischen Wunsch eines Toten. Etwas Schlimmes passiert oder ist, wie beim Tod, abzusehen; man schreibt darüber, und dann geht es einem schon besser damit. Ich kann mir vorstellen, dass das in ganz kleinem, örtlich begrenztem Maßstab zutrifft. Jules Renard in seinen Tagebüchern, 26 . September 1903 : »Die Schönheit der Literatur. Mir stirbt eine Kuh weg. Ich schreibe über ihren Tod, und das bringt mir so viel Geld ein, dass ich mir eine neue Kuh kaufen kann.« Aber ob es auch im weiteren Sinn funktioniert? Bei einer bestimmten Art von Autobiografie vielleicht: Jemand hat eine traurige Kindheit, niemand liebt ihn, er schreibt darüber, das Buch wird ein Erfolg, er verdient einen Haufen Geld, und nun wird er geliebt. Eine Tragödie mit Happy End! (Obwohl es für jeden solchen Hollywood-Moment ein paar andere geben muss, die sich so anhören: Jemand hat eine traurige Kindheit, niemand liebt ihn, er schreibt darüber, das Buch ist nicht zur Veröffentlichung geeignet, und er wird immer noch nicht geliebt.) Aber bei Belletristik oder einer anderen transformierenden Kunst? Ich wüsste nicht, warum es da funktionieren oder warum der Künstler es wollen sollte. Brahms hat seine späten Klavier-Intermezzi als
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