Nichts, was man fürchten müsste
der Beweis meiner Unaufmerksamkeit. Während ich langsam die Kupplung kommen ließ und zentimeterweise den Weg hinunterrollte, hielt sie sich am Fenster fest und nannte mir Beispiele für die Verschlechterung seines Zustands, die mir entgangen waren.
Damit will ich nicht sagen, dass sie nicht nett zu ihm war; aber im Umgang mit dem Zustand meines Vaters betonte sie ihre eigenen Unannehmlichkeiten und Leiden und gab auch zu verstehen, dass er sich seine Leiden ein bisschen mehr selbst zuzuschreiben habe, als andere wahrhaben wollten. »Wenn er fällt, gerät er natürlich in Panik«, beschwerte sie sich dann. »Tja, ich kann ihn nicht aufheben, also muss ich jemanden aus dem Dorf zu Hilfe holen. Aber er gerät in Panik, weil er nicht aufstehen kann.« Schlechte Note. Dann war da die Sache mit der Tretmaschine meines Vaters, die ihm der Krankenhaus-Physiotherapeut besorgt hatte. Mein Vater sollte in seinem Parker Knoll sitzen und auf diesem glänzenden kleinen Rumpf-Fahrrad herumtrampeln. Ob er es absurd fand, im Sessel zu sitzen und so zu tun, als würde er Fahrrad fahren, oder ob er einfach meinte, das würde sowieso nichts nützen, weiß ich nicht. »Er ist so starrsinnig«, beklagte sich meine Mutter.
Als es sie dann traf, war sie natürlich genauso starrsinnig. Nach ihrem ersten Schlaganfall war sie in ihrer Beweglichkeit viel eingeschränkter als mein Vater damals: Die rechte Seite war weitgehend gelähmt, und das Sprachvermögen hatte mehr gelitten als bei ihm. Am verständlichsten drückte sie sich aus, wenn ihr Zorn über das, was ihr da zugestoßen war, am größten war. Dann packte sie den gelähmten Arm mit der guten Hand und hob ihn hoch. »Das da«, sagte sie, und für einen Moment hörte sie sich exakt an wie früher, »ist natürlich zu nichts zu gebrauchen. « »Das da« hatte sie etwa so im Stich gelassen wie mein Vater. Auch den Physiotherapeuten stand sie, genau wie Dad, skeptisch gegenüber. »Die ziehen und zerren an mir herum«, klagte sie. Als ich ihr sagte, sie zögen und zerrten an ihr herum, damit es ihr besser ginge, erwiderte sie spöttisch: »Ja, Sir.« Aber sie war bewundernswert unerschro cken und ließ sich auf nichts ein, was sie als verlogene Aufmunterung betrachtete. »Die lassen dich irgendwas machen, und dann sagen sie ›Sehr gut‹. So ein Blödsinn – ich weiß doch, dass es nicht sehr gut ist.« Also spielte sie da nicht weiter mit. Sie blieb sich selbst treu, indem sie sich über den professionellen Optimismus lustig machte und sich der hypothetischen Genesung verweigerte.
Meine Nichte C. ging sie besuchen. Ich rief sie an und fragte, wie es gelaufen sei und wie es Ma gehe. »Als ich ankam, war sie vollkommen gaga, aber dann haben wir über Kosmetik gesprochen, und da war sie wieder völlig normal.« Da ich aus diesem Befund die Schroffheit der Jugend herauszuhören meinte, fragte ich – womöglich ein wenig steif –, wie es sich denn geäußert habe, dass sie »gaga« war. »Ach, sie war furchtbar sauer auf dich. Sie hat gesagt, du hättest sie dreimal hintereinander beim Tennis versetzt und sie da auf dem Platz stehen lassen.« Okay, vollkommen gaga.
Nicht, dass meine Nichte der Kritik entgangen wäre. Einmal mussten wir beide ein zwanzig Minuten währendes, geheimnisvolles, wütendes Schweigen samt hartnäckiger Verweigerung von Blickkontakt ertragen. Schließlich sagte Ma zu C.: »Du bist ein richtiger kleiner Schlingel, wirklich und wahrhaftig. Aber du siehst doch ein, dass ich dir mal eine Lektion erteilen musste?« Vielleicht gaben ihr diese aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen die Illusion, sie habe ihr Leben noch im Griff. Die Vorwürfe trafen auch meinen Bruder, dessen Abwesenheit in Frankreich ihn weder entschuldigte noch schützte. Etwa zwei Wochen nach Mutters erstem Schlaganfall, als ihre Äußerungen weitgehend unverständlich waren, sprachen wir darüber – besser gesagt, ich erklärte ihr –, wie ich alles regeln würde, während sie im Krankenhaus war. Ich zählte auf, wen ich zurate ziehen konnte, und falls es Probleme gäbe, könnte ich mich immer noch an meinen Bruder mit seinem »klugen Köpfchen« wenden. Mit qualvollen Pausen nach jedem Wort brachte unsere Mutter endlich den lupenreinen Satz hervor: »Sein kluges Köpfchen denkt an nichts anderes als an seine Arbeit.«
Trotz monatelanger Verweigerung aller Krankenhausangebote erlangte sie das Artikulationsvermögen teilweise zurück, nicht aber die Beweglichkeit. Da sie sich selbst
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