Nichts, was man fürchten müsste
»Wiegenlieder meiner Schmerzen« bezeichnet. Aber wir glauben doch nicht, dass sie ihm den Arzt ersetzten. Und so macht das Schreiben über den Tod meine Angst davor weder kleiner noch größer. Dennoch versuche ich mir einzureden, es habe zumindest vorübergehend einen Vorteil, wenn ich in der einhüllenden und prophetischen Finsternis wachgebrüllt werde. Das ist nicht nur wieder so ein Anfall von ti mor mortis, sage ich mir. Das sind Recherchen für meine Arbeit.
Flaubert meinte, man müsse alles erlernen, vom Sprechen bis zum Sterben. Nur können wir Letzteres nicht so recht üben. Außerdem sind wir skeptischer geworden gegenüber dem vorbildlichen Tod, wie Montaigne ihn uns vor Augen führte: Szenen, bei denen Würde, Tapferkeit und Fürsorge für andere zur Schau gestellt, trostreiche letzte Worte gesprochen werden und die düstere Handlung ohne possenhafte Unterbrechungen ihren Lauf nimmt. Daudet zum Beispiel starb beim Essen im Kreise seiner Familie. Er nahm ein paar Löffel Suppe zu sich und plauderte fröhlich über das Theaterstück, an dem er gerade arbeitete, dann kam das Todesröcheln, und er kippte auf seinem Stuhl um. Das war die offizielle Version, und die kommt der Defini tion seines Freundes Zola von une belle mort nahe – man wird unverhofft hinweggerafft wie ein Insekt, das von einem Riesenfinger zerquetscht wird. Und so weit stimmt die Geschichte ja auch. Doch was unmittelbar danach geschah, wurde in den Nachrufen nicht erwähnt. Zwei Ärzte waren gerufen worden, die sich anderthalb Stunden – an derthalb Stunden – lang an künstlicher Beatmung versuchten; dabei wandten sie das Verfahren der rhythmischen Zungentraktion an, das damals gerade Mode war. Als der Erfolg, wie zu erwarten, ausblieb, ging man ohne besseres Ergebnis zu einer primitiven Form der elektrischen Defibrillation über.
Ich sehe hier so etwas wie eine berufliche Ironie des Schicksals – mit der langue hatte Daudet sich einen Namen gemacht, und an der langue zerrten die Ärzte bei ihren Rettungsversuchen herum. Vielleicht hätte er diese Ironie (gerade noch) zu schätzen gewusst. Ich glaube, bis zum eigentlichen Moment des Sterbens war das ein guter Tod – natürlich nur, wenn man davon absieht, dass ihm die Qualen einer Syphilis im dritten Stadium vorausgegangen waren. George Sand starb unkompliziert, bei klarem Verstand und ermutigend in der ländlichen Idylle ihres Hauses in Nohant, während sie auf Bäume hinausblickte, die sie viele Jahre zuvor selbst gepflanzt hatte. Auch das war ein guter Tod – wenn man davon absieht, dass ihm die Qualen einer unheilbaren Krebserkrankung vorausgegangen waren. Ich glaube eher an den guten Tod von Georges Braque, vor allem weil sein Tod so klingt, wie seine Kunst aussieht (aber das mag Gefühlsduselei sein). Sein Sterben zeichnete eine »eher durch Selbstbeherrschung denn Apathie gewonnene Ruhe« aus. Als er am Ende immer wieder das Bewusstsein verlor, verlangte er nach seiner Palette; und er starb, »ohne zu leiden, ruhig, den Blick bis zum letzten Moment auf die Bäume in seinem Garten gerichtet, deren höchste Äste aus den großen Atelierfenstern zu sehen waren«.
Solch ein Glück und solch eine Ruhe erwarte ich mir nicht. Auf selbst gepflanzte Bäume hinausschauen? Ich habe nur einen Feigenbaum und einen Stachelbeerstrauch gepflanzt, und beide sind vom Schlafzimmerfenster aus nicht zu sehen. Nach der Palette verlangen? Ich hoffe, man wird mir nicht gehorchen, wenn ich in meinen letzten Minuten nach meiner elektrischen Schreibmaschine verlange, einer IBM 196 c, die so schwer ist, dass meine Frau sie wohl kaum heben könnte. Ich stelle mir vor, dass ich etwa so sterbe wie mein Vater, im Krankenhaus und mitten in der Nacht. Wahrscheinlich wird eine Schwester oder ein Arzt sagen, ich sei einfach »entschlafen«, und am Ende sei jemand bei mir gewesen, ob das nun stimmt oder nicht. Wahrscheinlich werden meinem Entschlafen große Schmerzen, Angst und verzweifelte Wut über das ausweichende und euphemistische Gerede um mich herum vorausgehen. Wer dann den Müllsack mit meinen Kleidern bekommt, findet darin hoffentlich kein Paar ungetragener, brauner Hausschuhe mit Klettverschluss. Vielleicht drücken sich meine Hosen nach meinem Tod für eine Saison oder auch zwei auf irgendeiner Parkbank oder in einer schäbigen Absteige herum.
In meinem Tagebuch finde ich diesen über zwanzig Jahre alten Eintrag:
Die Leute reden vom Tod, als sei da nichts, was man fürch ten
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