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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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hier haben, sind natürlich wahnsinnig gut.« Manchmal ignorierte ich solche Bemerkungen (ihr zuliebe, mir zuliebe), manchmal korrigierte ich sie (ihr zuliebe, mir zuliebe). »Eigentlich sind das Krankenschwestern.« Dann sah meine Freundin mich mit einem verschlagenen Blick an, der Erstaunen über meine Naivität ausdrückte. »Manche schon«, räumte sie ein. »Aber die meisten sind Dienstmädchen.«
    Mein Vater hatte mehrere Schlaganfälle, die im Laufe der Jahre aus dem aufrechten Mann von meiner Körpergröße erst eine über einen Rollator gekrümmte Gestalt mit schief gehaltenem Kopf machten, weil das Gestell diese unnatürliche Haltung erzwang, dann einen halb gedemütigten Rollstuhlinsassen. Als jemand von der Behörde kam, um den Grad seiner Behinderung zu begutachten, erklärte man uns, er würde einen – von der Behörde bezahlten – Handlauf brauchen, damit er leichter vom Bett zur Tür gelangte. Meine Mutter lehnte das rundweg ab: »So ein häss liches Ding kommt mir nicht ins Zimmer.« Sie behauptete, es würde das Aussehen des Bungalows verschandeln, doch inzwischen habe ich den Verdacht, dass sie mit ihrer Abwehr indirekt leugnete, was da geschehen war – und ihr womöglich auch bevorstand. Dagegen gestattete sie, zu meiner Überraschung, eine Veränderung an Dads Sessel. Das war der stabile grüne Parker Knoll mit der hohen Rückenlehne, in dem Grandpa früher seinen Daily Express gelesen und Grandmas Magen mit dem Telefon verwechselt hatte. Jetzt wurden die Sesselbeine mit Beschlägen aus Metall verlängert, damit Dad leichter hinein- und herauskam.
    Dieser schleichende physische Verfall meines Vaters ging mit einem Nachlassen des Sprachvermögens – Artikulation und Wortgedächtnis – einher. (Früher war er Französischlehrer, und nun kam ihm seine langue abhanden.) Ich sehe noch vor mir, wie er sich mit seinem Rollator unter Geschlurfe und Geschiebe langsam vom Wohnzimmer zur Haustür bewegte, um mich zu verabschieden; die Zeit dehnte sich endlos, und jedes Gesprächsthema wirkte vollkommen falsch. Ich tat so, als würde ich herumtrödeln, betrachtete eingehend einen Krug mit Blumen auf der Anrichte oder blieb stehen, um mir noch einmal irgendeinen Nippes anzusehen, den ich noch nie leiden konnte. Schließlich waren wir alle drei auf dem Türvorleger angelangt. Einmal waren die Abschiedsworte meines Vaters: »Und nächstes Mal bringst du … bringst du …« Dann stockte er. Ich wusste nicht, ob ich abwarten oder mit vorgetäuschtem Verständnis nicken sollte. Aber meine Mutter fragte streng: »Wen soll er mitbringen?« – als ließe sich die geistige Fehlbarkeit meines Vaters korrigieren, wenn man ihm nur die richtigen Fragen stellte. »Bringst du … bringst du …« Jetzt drückte seine Miene wütende Verzweiflung über sein eigenes Gehirn aus. » Wen soll er mitbringen?«,
    wiederholte meine Mutter. Inzwischen war die Antwort so offensichtlich und unnötig, dass ich am liebsten zur Tür hinausgerannt, ins Auto gesprungen und weggefahren wäre. Plötzlich fand Dad einen Ausweg aus seiner Aphasie. »Bringst du … Julians Frau mit.« Ah, welche Erleichterung. Aber noch nicht ganz. Meine Mutter sagte, was sich in meinen Ohren nicht gerade feinfühlig anhörte: »Ach, du meinst P.«, und machte damit meinen Vater, den Lehrer, zu einem Schuljungen, der bei einer Prüfung versagt hatte.
    Am Ende meiner Besuche stand er an der Haustür über seinen Rollator gebeugt, der diese blödsinnigen, leeren Metallkörbchen an den Griffen hatte; er hielt den Kopf schräg, als wollte er die Wirkung der Schwerkraft auf seinen Unterkiefer verhindern. Ich verabschiedete mich und ging die etwa zehn Meter zu meinem Auto, worauf meiner Mutter – unweigerlich – noch etwas »einfiel«; sie kam im Trab den kleinen gebogenen Asphaltweg entlang (wobei ihr eiliger Schritt die Unbeweglichkeit meines Vaters noch deutlicher machte) und klopfte an mein Fenster. Ich ließ es widerstrebend herunter, da ich schon ahnte, was sie sagen würde. »Was meinst du? Sein Zustand hat sich verschlechtert, nicht wahr?« Ich schaute an meiner Mutter vorbei zu meinem Vater hin, der wusste, dass wir über ihn sprachen, und auch wusste, dass ich wusste, dass er das wusste. »Nein«, antwortete ich meist aus Loyalität zu Dad, denn die einzige andere Möglichkeit wäre gewesen, zu brüllen: »Ma, er hatte einen Schlaganfall, verdammt noch mal; was erwartest du da – Volleyball?« Doch für sie war diese diplomatische Antwort

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