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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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nie etwas vorgemacht hatte, erklärte sie, eine Rückkehr nach Hause und weiteres Wohnen in ihrem Bungalow sei ausgeschlossen. Eine Krankenschwester namens Sally kam und sollte sich dazu äußern, wie Mutter sich in dem Pflegeheim zurechtfinden würde, in dem C. und ich sie unterzubringen hofften. Ma behauptete, sie habe dieses Heim bereits besichtigt und für »einwandfrei« befunden; meiner Vermutung nach hatte sie sich diese »Besichtigung« allerdings anhand eines Prospekts zusammenfabuliert. Sie erklärte Schwester Sally, sie wolle die Mahlzeiten allein in ihrem Zimmer einnehmen: Es sei ihr unmöglich, mit den anderen Bewohnern zusammen zu essen, da sie den rechten Arm nicht bewegen könne. »Ach, stellen Sie sich nicht so an«, sagte die Schwester. »Das spielt doch keine Rolle.« Mutters Antwort war gebieterisch: »Wenn ich sage, es spielt eine Rolle, dann spielt es eine Rolle. « – »Waren Sie mal Lehrerin?«, erwiderte Sally schlagfertig.

    Als junger Mann hatte ich entsetzliche Angst vor dem Fliegen. Meine Lektüre für Flugreisen wählte ich immer unter dem Gesichtspunkt aus, welches Buch man neben meiner Leiche finden sollte. Ich weiß noch, dass ich einmal auf einen Flug von Paris nach London Bouvard und Pécuchet mitnahm, weil ich mich der Illusion hingab, nach dem unvermeidlichen Absturz gäbe es a) eine identifizierbare Leiche, bei der es gefunden werden könnte, b) würde Flaubert als französisches Taschenbuch den Aufprall wie auch die Flammen überstehen und c) wäre das Buch bei seiner Entdeckung noch immer von meiner auf wundersame Weise unbeschädigten (wenn auch vielleicht abgerissenen) Hand umklammert, wobei ein erstarrter Zeigefinger auf eine besonders bewunderte Stelle zeigte, von der die Nachwelt folglich Kenntnis nehmen würde. Das mag glauben, wer will – und während des Fluges hatte ich naturgemäß zu viel Angst, um mich auf einen Roman zu konzentrieren, dessen ironische Wahrheiten sich jungen Lesern sowieso nur schwer erschließen.
    Am Flughafen von Athen wurde ich von meiner Angst weitgehend geheilt. Ich war Mitte zwanzig und erschien rechtzeitig zu meinem Rückflug nach Hause – so rechtzeitig (ich hatte es sehr eilig, da wegzukommen), dass ich nicht nur mehrere Stunden, sondern einen ganzen Tag und mehrere Stunden zu früh da war. Mein Ticket konnte nicht umgeschrieben werden, ich hatte kein Geld, um in die Stadt zurückzufahren und mir ein Hotel zu suchen, darum kampierte ich auf dem Flughafen. Auch da weiß ich noch, welches Buch ich – als Absturzgefährten – bei mir hatte: einen Band von Durrells Alexandria Quartett. Zum Zeitvertreib stieg ich auf die Aussichtsplattform des Flughafengebäudes. Von dort sah ich zu, wie ein Flugzeug nach dem anderen abhob, ein Flugzeug nach dem anderen landete. Wahrscheinlich gehörte manch eins davon einer Schrott-Airline und die gesamte Besatzung war betrunken; doch keins von ihnen stürzte ab. Ich sah jede Menge Flugzeuge nicht abstürzen. Und diese nicht statistische, sondern visuelle Demonstration der Flugsicherheit überzeugte mich.
    Ob ich es noch einmal mit diesem Trick versuchen könnte? Wenn ich mir den Tod genauer und häufiger ansähe – mir einen Job als Bestattungsgehilfe oder Angestellter in einer Leichenhalle suchte –, würde der Beweis der Vertrautheit mir wieder die Angst austreiben? Möglicherweise. Aber hier liegt auch ein Trugschluss verborgen, den mein Bruder als Philosoph schnell aufzeigen würde. (Allerdings würde er diesen Zusatz wohl streichen. Als ich ihm die ersten Seiten dieses Buches zeigte, wies er meine Annahme zurück, er misstraue dem Gedächtnis »als Philosoph«. »Denke ich das alles ›als Philosoph‹? Genauso wenig wie ich ›als Philosoph‹ denke, dass man keinem Gebrauchtwagenhändler trauen kann.« Mag sein; dennoch hört sich selbst dieses Dementi für mich wie das Dementi eines Philosophen an.) Der Trugschluss ist der: Am Athener Flughafen sah ich Tausende und Abertausende von Passagieren nicht sterben. In einem Bestattungsunternehmen oder einer Leichenhalle würde ich meinen schlimmsten Verdacht bestätigt finden: dass die Sterblichkeitsrate des Menschen keinen Deut niedriger ist als einhundert Prozent.

    Das oben geschilderte »Best-case«-Todesszenario hat noch einen anderen Makel. Einmal angenommen, der Arzt sagt, es bleibe noch genug Lebenszeit und geistige Klarheit, um das letzte Buch zu vollenden. Wer würde da nicht die Arbeit so weit wie möglich in die Länge ziehen?

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