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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Ford Madox Ford: »Es ist nicht schwer, zu sagen, auch der beste Elefant sei kein gutes Warzenschwein – darauf läuft Kritik nämlich meistens hinaus.« Ein Satz von Jules Renard könnte vielen Schriftstellern zugutekommen: »Man kann von fast allen Werken der Literatur behaupten, sie seien zu lang.« Schließlich und endlich sollte ein Schriftsteller damit rechnen, dass er missverstanden wird. Dazu noch einmal Sibelius mit der ebenso sinnreichen wie ironischen Aufforderung: »Missverstehen Sie mich richtig.«
    Als ich anfing zu schreiben, stellte ich für mich die Regel auf – als Vorübung zur Klärung des Kopfes, zur Konzentration, zur psychologischen Aufrüstung –, so zu schreiben, als wären meine Eltern schon tot. Nicht etwa, weil ich die Absicht hatte, die beiden zu benutzen oder zu verleumden; nein, ich wollte nur nicht daran denken müssen, was sie möglicherweise verletzen oder erfreuen könnte. (Und in dieser Funktion waren sie nicht nur sie selbst, sondern standen auch für Freunde, Kollegen, Geliebte, von Warzenschwein-Beschreibern ganz zu schweigen.) Das Merkwürdige ist, dass meine Eltern nun schon seit Jahren tot sind, aber ich brauche diese Regel mehr denn je.
    Mitten in einem Wo zu sterben oder nach zwei Fünfteln eines Ro  . Das fürchtete auch mein Freund, der Ro   cier Brian Moore, wenn auch aus einem zusätzlichen Grund: »Weil dann irgendein Idiot daherkommt und das Ding für dich zu Ende schreibt.« Ein schönes »Was-wäre-dir-lieber« für einen Romancier: Würdest du lieber mitten in einem Buch sterben – und dann kommt so ein Idiot daher und schreibt es für dich zu Ende – oder ein unfertiges Werk hinterlassen, und kein Idiot auf der ganzen Welt hat auch nur die geringste Lust, es zu Ende zu schreiben? Moore starb, während er an einem Roman über Rimbaud arbeitete. Die Ironie der Geschichte ist: Rimbaud war ein Schriftsteller, der dafür gesorgt hatte, dass er nicht mitten in einem Vers, nach zwei Dritteln eines mo sterben würde – er hatte sich ein halbes Lebensalter vor seinem Tod aus der Literatur zurückgezogen.

    Meine Mutter war ein Einzelkind, später die einzige Frau in einem Haushalt, dessen männliche Mitglieder wenig Machtinstinkt besaßen, und entwickelte so einen Solipsismus, der mit dem Alter nicht geringer wurde. In ihrer Witwenzeit neigte sie noch mehr zu Dauermonologen als in den Tagen, da aus dem Parker Knoll noch höfliche, liebevolle und manchmal auch sarkastische Antworten hervorzulocken waren. Einmal saß ich nachmittags mit ihr zusammen, war mit den Gedanken zum Teil ganz woanders, und da überraschte sie mich mit einer neuen Idee. Sie habe, so sagte sie, über die verschiedenen Formen von Altersschwäche nachgedacht, die ihr womöglich bevorstünden, und sich gefragt, ob sie lieber taub oder blind sein wollte. In meiner Naivität glaubte ich für einen Moment, sie wolle meine Meinung dazu hören, aber sie brauchte gar keinen Beitrag mehr: Sie würde, erklärte sie mir, sich für die Taubheit entscheiden. Ein Zeichen der Solidarität mit ihrem Vater und ihren zwei Söhnen? Nichts dergleichen. Sie war zu folgendem Schluss gekommen: »Wenn ich blind bin – wie soll ich da meine Fingernägel pflegen?«
    Tod und Sterben führen zu einem ganzen Katalog solcher »Was-wäre-dir-lieber«-Fragen. Das fängt damit an, ob man lieber wissen will, dass man stirbt, oder lieber nicht. Will man sich dabei zusehen oder lieber nicht? Mit achtunddreißig Jahren notierte Jules Renard: »Bitte, lieber Gott, lass mich nicht zu rasch sterben! Ich würde ganz gern sehen, wie ich sterbe.« Das schrieb er am 24 . Januar 1902 , dem zweiten Jahrestag seiner Fahrt von Paris nach Chitry, wo er seinen Bruder Maurice beerdigt hatte – den Bruder, der sich in ein paar stummen Minuten aus einem Bauleiter, der sich über die Zentralheizung beklagte, in einen Leichnam mit dem Kopf auf einem Pariser Telefonbuch verwandelt hatte. Hundert Jahre später wurde der Medizinhistoriker Roy Porter gebeten, sich Gedanken über den Tod zu machen: »Ach wissen Sie, ich fände es interessant, bei vollem Bewusstsein zu sterben, denn man müsste doch die erstaunlichsten Veränderungen erfahren. Zu denken, jetzt sterbe ich … Ich glaube, ich würde das alles gern bei vollem Bewusstsein erleben. Sonst würde man doch einfach etwas verpassen.« Eine derartige Neugier im Endstadium hat eine große Tradition. 1777 wurde der Schweizer Physiologe Albrecht von Haller auf dem Sterbebett von einem

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