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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Scheherazade gingen die Geschichten doch auch nie aus. »Morphiumtropf?« – »Ach nein, ich hab noch ziemlich viele Kapitel vor mir. Es gibt doch erheblich mehr über den Tod zu sagen, als ich dachte …« Und so wirkt sich der egoistische Lebenswille strukturell zum Nachteil des Buches aus.
    Vor einigen Jahren erfuhr der britische Journalist John Diamond, dass er Krebs hatte, und verarbeitete seine Krankheit in einer wöchentlichen Kolumne. Zu Recht behielt er darin den munteren Ton bei, der auch für seine anderen Arbeiten typisch war; zu Recht bekannte er sich neben Neugier und gelegentlicher Tapferkeit auch zu Feigheit und Panik. Sein Bericht klang völlig authentisch: So sehen die Begleiterscheinungen eines Lebens mit Krebs aus, und die Krankheit macht einen nicht zu einem anderen Menschen oder hält einen davon ab, mit seiner Frau zu streiten. Wie viele andere Leser drückte ich ihm damals die Daumen, dass er noch bis zur nächsten Woche durchhalten möge. Doch nachdem ein Jahr und mehr vergangen war … nun ja, da baute sich zwangsläufig eine gewisse narrative Erwartungshaltung auf. Hey, Wunderheilung! Hey, war alles nur ein Scherz! Nein, beides wäre kein passender Schluss gewesen. Diamond musste sterben; und das tat er auch brav und (unter erzählerischen Gesichtspunkten) korrekt. Und doch – wie soll ich sagen? Ein strenger Literaturkritiker hätte womöglich bemängelt, dass es seiner Geschichte gegen Ende ein wenig an Kompaktheit fehlte.
    Wenn Sie diesen Satz lesen, bin ich womöglich schon tot. In dem Fall werden Beschwerden über das Buch unbeantwortet bleiben. Andererseits könnten wir beide jetzt noch am Leben sein (Sie per definitionem), aber Sie könnten vor mir sterben. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht? Tut mir leid, dass ich das ansprechen muss, aber es ist durchaus eine Möglichkeit, zumindest in den nächsten Jahren. In dem Fall gilt Ihren lieben Angehörigen mein herzliches Beileid. Und wie die Teilnehmer der Freitagsrunde in dem ungarischen Restaurant immer sagten – vielmehr nie sagten, aber vielleicht bisweilen dachten: Entweder ich gehe zu deiner Beerdigung, oder du kommst zu meiner. Natürlich war das schon immer so; doch in vorgerücktem Alter nimmt diese grausame Unabänderlichkeit klarere Konturen an. Was Sie und mich betrifft – immer vorausgesetzt, ich bin nicht wirklich schon tot, wenn Sie dies lesen –, so ist es, versicherungsmathematisch gesehen, wahrscheinlicher, dass Sie mich auf dem letzten Weg begleiten als umgekehrt. Und es gibt immer noch die dritte Möglichkeit – dass ich mitten beim Schreiben dieses Buches sterbe. Was für uns beide frustrierend wäre – es sei denn, Sie wollten sowieso aufgeben, und das genau an der Stelle, wo die Erzählung abbricht. Womöglich sterbe ich sogar mitten in einem Satz. Vielleicht genau mitten in einem Wo
    War nur ein Scherz. Wenn auch nicht ganz. Ich habe noch bei jedem meiner Bücher, außer beim ersten, an irgendeiner Stelle daran gedacht, dass ich womöglich sterbe, bevor es fertig wird. Das gehört alles zu dem Aberglauben, der Folklore, der Manie dieses Gewerbes, dem ganzen fetischistischen Theater. Die richtigen Bleistifte, Kugelschreiber, Filzstifte, Notizbücher, das richtige Papier, die richtige Schreibmaschine: Notwendigkeiten, die zugleich objektive Entsprechungen der richtigen Geistesverfassung sind. Die kommt dadurch zustande, dass man alle potenziell negativen Einflüsse beiseiteschiebt und damit den Konzentrationskreis immer mehr einengt, bis nur noch das Wesentliche übrig bleibt: Ich, Sie, die Welt und das Buch – und es so gut werden zu lassen, wie es irgend geht. Wenn ich mir dann die Sterblichkeit in Erinnerung rufe (oder, was eher der Wahrheit entspricht, wenn sich die Sterblichkeit mir in Erinnerung bringt), ist das ein nützlicher und notwendiger Ansporn.
    Dazu dienen auch die Ratschläge meiner Vorgänger. Anweisungen, Epigramme, Maximen, die man sich tatsächlich oder im übertragenen Sinn an die Pinnwand heftet. William Styron und Philip Roth hatten sich beide Flauberts Selbstermahnung über den Schreibtisch gehängt: »Sei ordentlich und gewöhnlich im Leben, wie ein Bourgeois, auf dass du in deinem Werk radikal und originell sein kannst.« Vielleicht muss man sich gedanklich von der Ablenkung durch künftige Kritikermeinungen befreien? Da könnte Sibelius helfen: »Denkt immer daran, in keiner Stadt Europas wurde einem Kritiker ein Denkmal gesetzt«; aber mein Lieblingsspruch stammt von

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