Nichts, was man fürchten müsste
medizinischen Kollegen betreut. Haller fühlte sich selbst den schwächer werdenden Puls und starb, wie es sich für einen Arzt gehört, mit den letzten Worten: »Mein Freund, die Arterie hört auf zu schlagen.« Im Jahr zuvor hatte sich Voltaire auf ähnliche Weise an seinen Puls geklammert, bis er schließlich langsam den Kopf schüttelte und wenige Minuten darauf starb. Ein bewundernswerter Tod – ohne Priester weit und breit –, der einen Platz auf Montaignes Liste verdient hätte. Und doch konnte er nicht jeden beeindrucken. Mozart, der sich damals in Paris aufhielt, schrieb an seinen Vater, dass »der gottlose und Erzspizbub Voltaire so zu sagen wie ein Hund – wie ein Vieh crepiert ist – das ist der Lohn!« Fürwahr, wie ein Hund.
Den Tod fürchten oder lieber nicht fürchten? Das scheint eine leichte Frage zu sein. Aber überlegen Sie mal: Was wäre, wenn Sie nie einen Gedanken an den Tod verschwendet und immer gelebt hätten, als gäbe es kein Morgen (was übrigens stimmt), sich Ihrem Vergnügen hingegeben, Ihre Arbeit getan und Ihre Familie geliebt hätten, und wenn Sie dann endlich doch einsehen müssten, dass Sie sterblich sind, würden Sie merken, dass dieses neue Bewusstsein eines Punkts am Ende des Satzes die ganze Geschichte davor völlig sinnlos macht? Dass Sie, wenn Ihnen von vornherein richtig klar gewesen wäre, dass Sie sterben müssen und was das bedeutet, nach ganz anderen Grundsätzen gelebt hätten?
Es gibt auch den umgekehrten Fall, und das könnte meiner sein: Was wäre, wenn Sie sechzig oder siebzig Jahre alt geworden wären und dabei ständig mit halbem Auge auf die sich stetig füllende Grube geschielt hätten, und wenn der Tod näher kommt, stellen Sie fest, da ist eigentlich nichts, was man fürchten müsste. Wenn Sie dann anfingen, sich zufrieden als Teil des großen Kreislaufs der Natur zu fühlen (bitte schön, hier sind meine Kohlenstoffatome)? Wenn die wohligen Metaphern plötzlich, oder auch allmählich, überzeugen könnten? In der alt englischen Dichtung wird das Menschenleben mit einem Vogel verglichen, der aus der Finsternis in einen hell erleuchteten Festsaal fliegt und dann auf der anderen Seite wieder hinaus in die Dunkelheit: Vielleicht lindert dieses Bild den Schmerz darüber, menschlich und damit sterblich zu sein. Ich kann nicht behaupten, dass das bei mir bislang funktioniert. Es ist durchaus ein schönes Bild, doch der Pedant in mir will immer wieder einwenden, jeder vernünftige Vogel, der in einen warmen Festsaal fliegt, würde doch möglichst lange auf den Dachsparren hocken bleiben und nicht gleich wieder rausflattern. Außerdem kann der Vogel in seiner Prä- und Postexistenz zu beiden Seiten des fröhlichen Zechgelages immerhin noch fliegen, und das ist mehr, als von uns behauptet wird oder behauptet werden kann.
Als ich mir der Sterblichkeit bewusst wurde, war alles ganz einfach: Man war am Leben, dann war man tot und verabschiedete sich von allem Göttlichen: Tschüss, Gott. Doch wer weiß schon, was das Alter mit uns macht? Als junger Journalist interviewte ich einmal den Schriftsteller William Gerhardie. Er war damals schon über achtzig, gebrechlich und ans Bett gefesselt; der Tod war nicht mehr fern. Irgendwann nahm er eine Anthologie über die Unsterblichkeit vom Nachttisch und zeigte mir einen dick unterstrichenen Bericht über eine außerkörperliche Erfahrung. Genau dasselbe, erläuterte er, habe er als Soldat im Ersten Weltkrieg erlebt. »Ich glaube an die Auferstehung«, sagte er schlicht. »Ich glaube an die Unsterblichkeit. Glauben Sie an die Unsterblichkeit?« Ich schwieg verlegen (und auch meine eigene außerkörperliche Erfahrung in meiner Schülerzeit fiel mir nicht mehr ein). »Nein, schon gut, hab ich in Ihrem Alter auch nicht«, sagte er verständnisvoll. »Aber jetzt glaube ich daran.«
Es könnte also sein, dass ich meine Meinung noch ändere (was ich allerdings bezweifle). Wahrscheinlicher ist, dass die Auswahl künftig verschwommener wird. Wenn früher Leben gegen Tod stand, steht dann, wie Montaigne sagte, Alter gegen Tod. Man klammert sich – ich klammere mich – dann nicht an ein paar zusätzliche Minuten in einem warmen Prunksaal mit dem Duft von gebratenen Hühnern und fröhlichem Pfeifen- und Trommelklang, nicht an ein paar zusätzliche Tage und Stunden wirklichen Lebens, sondern an ein paar zusätzliche Tage und Stunden atmender Hinfälligkeit in geistiger Umnachtung, mit Muskelschwund und Blasenschwäche. »Wieso
Weitere Kostenlose Bücher