Nichts Weißes: Roman (German Edition)
es noch gerade bis zur Tür und kotzt sich dann doch halbwegs auf ihr kleines Schwarzes. Marleen nimmt es nun in den Arm, das Kind, und tröstet es die zwei Minuten bis zum Neusser Hauptbahnhof.
»Gefeiert, nä?«, sagt der Taxifahrer, der das Fahrzeug sachte in die Pomona schaukelt, damit die Kleine ihm nicht das Leder verdirbt, das hat noch gefehlt, vierachtzig Fahrpreis und eine halbe Stunde putzen in der eiskalten Nacht. Die Straßen sind plötzlich überfroren, knirschen, als hätte die Erde eine Gänsehaut bekommen. In die Stichstraße will er nicht einbiegen, zu riskant, die dreißig Meter darunter können sie auch gehen. Also sich irgendwie gegenseitig dahintragen, zur Pomona 133. »Nee, Scheiße noch mal«, fällt es Cristina ein. »Du hast ja Geburts…stag. Tut mir schreckich … tut mir schreckl…l…l…ch.«
Das Erste, was Marleen vom neuen Jahr erblickt, sind ihre Jeans und ein nicht ganz sauberer Schlüpfer, die sie vor dem Bett hat fallen lassen, in dem sie mittags um eins noch liegt. Sie fühlt sich mürbe, kalt und dreckig, dreckig zwischen den Zehen und unter den Achseln, unter den Lidern; dreckig im Kopf. Sie lugt zur anderen Seite des Zimmers und entdeckt ein matt sich hebendes und wieder senkendes Bündel. Nichts zu hören, kein Atem, nichts. Recht hat Cristina, sich zu verstecken, und sie selbst taucht ebenso, obwohl die horizontale Lage den Kopf stechen macht, wieder unter der Decke ab. Wenn das rauskommt, was sie da getan haben. Der kleine Bruder, das wird er ihnen nie verzeihen. Der arme Linus, von den Schwestern nackt gefesselt und dann … stimuliert und damit gequält. Erlöse uns von dem Bösen. Wenn nur ein Gerechter … der heilige Sebastian am Kreuz, halbnackt, blutend. Linus. Quatsch. Sie schnellt hoch, sitzt kerzengerade im Bett, die Augen aufgerissen, aus denen sie sich das Gelbe wischt. Der Samen, dem weinenden Bruder abgezwungen. Geträumt. Oh Gott. Was nun. Beichte, Kloster, Verlies.
Vor ihrem Auge taucht das Bild eines Wasserglases auf, riesig, klar. Sie stürzt in die Küche. Johanna wendet Fischstäbchen und schaut die verknitterte Schwester im verknitterten Nachthemd an wie Jüngstes Gericht. Marleen schämt sich. Im Wohnzimmer liegt ein Päckchen mit lila Schleife, aber sie rührt es nicht an.
So ein käsiger Leib mit stinkendem Innenleben, das sich nach außen kehrt. Wie eine Collage von Wunden und Narben. Ein Ziepen und Zerren unter den Haarwurzeln beim Waschen. Eine unbegreifliche Verkopplung von Atmen und Furzen. Und welcher Idiot ist darauf gekommen, das Haus weiß zu streichen? Es beißt wie Säure in den Augen. Öffnete sich der Erdboden, um sie zu verschlucken, es täte ihr um sich selbst nicht leid.
Sie sitzt auf einem kleinen Findling, der am Rande des Teichs aufgestellt ist, im Mantel und in Hausschuhen, und starrt in das schwarze Wasser. Ein Dienstag. Es gibt keine Post. Es ist keine Post gekommen, nicht zu Weihnachten, nicht danach, nicht heute. Heute sowieso nicht: Hätt’ ich auch nicht verdient. Trotzdem, es ist ein Dienstag, und die bringen keine Post. Er schreibt sowieso nicht. Ich bin’s auch nicht wert. Was das wohl soll, der erste Tag des Jahres, und niemand rührt sich. Und wenn schon, und wenn er selbst käme, er würde sich ekeln vor mir. Und so weiter, immer im Kreis.
Ihr wird der Po kalt, sehr kalt, eine gerechte Strafe. Irgendwann kommt Cristina, oder ihr Geist, und holt sie rein. Mama sagt, sie sollte sich nicht gehen lassen. Sie soll was tun. Marleen lässt sich von Cristina das verkotzte Kleid geben und steigt in den Waschkeller hinab. Selbst so ein Schonwaschgang dauert recht lang, wenn man durch das Bullauge zuschaut. Dann hängt sie das Kleid umständlich auf einen Bügel, Rotz und Wasser. Als sie oben wieder auftaucht, ist es schon dunkel geworden.
Müller und Schmidts
Drei Schwestern, drei Mahlzeiten täglich, das macht das Leben angenehm. Die Tage ähneln sich wie Seehäfen. Über der Pomona ziehen, von Westen kommend, schwarzgerahmte Wolken hinweg, zwischendrin jagt das Licht herunter in Kegeln, die 133 überstrahlt wie ein Segel. Das alles tauscht Marleen ein gegen Kassel, wo der Schneematsch den Radfahrern Fallen stellt, der Himmel tagsüber auf Dämmerung geschaltet ist, und die Straßenbahnen durch die Schneisen rasen wie Axt auf Rädern. Sie geht im Flur auf und ab und guckt abwechselnd in die beiden Zimmer und in die Küche, weil die Räume größer und bedeutender erscheinen, wenn man selbst nicht drin ist. Sie lässt
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