Nichts Weißes: Roman (German Edition)
geträumt. Sie, die Zeugin, aber glaube, dass die junge Frau vor dem erschrocken sei, was man beim Erwachen schaut. Dass sie erschrak vor der Wirklichkeit.
Sie habe sich diese Freaklady, der Ausdruck sei nicht negativ gemeint, sehr genau angesehen, und sie frage sich – aber das gelte für Europäer im Allgemeinen –, ob diese sich zu viel vorgenommen hatte. Statt dem Schicksal zu vertrauen. Diese Frau sei nicht vom Schicksal, sondern vom Willen gezeichnet gewesen.
Kurz vor der Landung darf man so tun, als habe man sich soeben erst bemerkt. Der Rechtsanwalt klappt seine Akte zu und fragt in Richtung der jungen Frau:
»Ihr erstes Mal in den Vereinigten Staaten?«
»Nein.«
»Urlaub?«
»Nein.«
»Business?«
»Ja.«
Der Mann stellt keine weiteren Fragen. Die Stewardess kommt vorbei und bittet ihn, den Aktenordner unter dem Vordersitz zu verstauen. Während er in den Gurt gedrückt wird, schließt er die Augen. Die Mutter presst derweil eine Hand auf die Brust des Jungen, der sie dabei verwundert ansieht. Das Flugzeug rollt noch lange weiter und ändert dabei mehrmals die Fahrtrichtung, bevor es zum Stehen kommt und ein Gong das Ende der Reise verkündet. Der Anwalt ruft: »Viel Glück!«
Die junge Frau nickt, ohne zu lächeln, und Antoine sieht ihm nach mit offenem Mund, wie er unter den Passagieren, die mit gestreckten Armen nach dem Gepäck greifen, einer von vielen wird.
Bleisatz
Dies ist der Moment, in dem aus den aufgeschwungenen Türen der Waggons Menschen heraussteigen, einige wenige, denkt man zuerst, schon Sekunden später mehr, als man zählen kann, gefolgt von dem Gefühl, dass die erwartete Person nicht dabei sei, man würde sie spüren. Auf dem Bahnsteig steht man immer falsch, vorn oder hinten, weil der Zug so lang ist, dass er die Leute am anderen Ende zu schattenhaften Winzlingen macht, und falsch in der Mitte, weil man sich hin- und herwenden muss; schon ist die Ankommende auf der Treppe verschwunden. Menschen reichen sich die Hände, höfliche und stürmische Umarmungen rechts und links. Der Bahnsteig lichtet sich. Dann, genau dort, wo Marleen wie angewurzelt steht, steigt die Schwester als Letzte aus dem Zug, ein Hauch von Madonna, und darunter ihre leichte, aber unlenkbare Mädchenhaftigkeit, Aquarellspuren von Traurigkeit in den Augen, das bemerkt Marleen sehr wohl, als die Blicke der Schwestern sich begegnen. Sie umarmen sich, als hätten sie sich Monate nicht gesehen.
Zwei Wochen zuvor, die beiden Schwestern noch zu Haus, Neuss, Pomona 133: Marleen geht auf die steinerne Treppe mit dem weißen Metallgeländer und der schwarzen Kunststoffreling zu, als das Telefon klingelt. Cristina nimmt ab, Marleen ist schon halb oben, als die Schwester ruft, »Ein Herr Wolbe für dich.« Marleen nimmt den Hörer von der Schwester durch das Metallgeländer entgegen und setzt sich auf die Treppe, die der Düsseldorfer Architekt absichtlich breit gezogen hat. Getönt hat er damals, »Kommste op emol rop un runger«.
»Hier ist Marleen Schuller.«
Wem, wenn man Großes vorhat, schüttet man sein Herzaus? Nicht einmal ihrer eigenen Mutter würde Marleen gestehen, dass sie sich berufen fühlt, eine Schrift zu entwerfen, die alle Vorzüge aller existierenden Schriften hat und alle Nachteile Buchstabe für Buchstabe überwindet. Wenn es gelänge, würde die Futura im Vergleich aussehen wie Lego, die Helvetica wie Angst, die Garamond wie geschnitzt. Eine Schrift ohne Stil soll es sein, eine Schrift, die man gar nicht bemerkt. So etwas wie die neue, weiße Ware im Supermarkt, da steht »Zucker« drauf oder »Salz«, kein Bild, nichts. Es ist auch nicht so, als hätte Marleen etwas darüber in ihr Tagebuch geschrieben, sie führt gar keins, oder unvorsichtig erwähnt in einem Brief an die Großmutter in Gruiten, das würde ihr nicht passieren. Sie ahnt, dass ihr Plan Hohn auf sich ziehen könnte, je mehr, desto weniger einer von der Sache versteht. Deshalb hat sie sich in Kassel eingeschrieben und bei Volpe um ein Praktikum beworben. Der druckt noch Bücher wie früher, der Einzige in der Republik. Sieht ein bisschen altmodisch aus das Zeug, aber macht ja nichts.
»Volpe. Ich habe Ihren Brief bekommen. Ich sage Ihnen gleich, dass ich nicht weiß, wie wir Sie einsetzen können. Aber es gibt genug zu tun. Fünfzehnhundert Mark für acht Wochen ist Maximum.«
»Das geht schon, Herr Volpe. Nur … die Praktikumsbescheinigung ist wichtig.«
»Im Bleisatz mit Goldschnitt, wenn es sein muss. Rufen Sie mich
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