Nichts Weißes: Roman (German Edition)
sich Eierkohle in den Kellerverschlag liefern, womit sie den Herd in der Küche heizt, ein unscheinbarer, weiß emaillierter Kasten, auf dessen beringten Eisenplatten man spät in der Nacht noch Wasser erhitzen kann, für die Wärmflasche; Marleen schläft im Kalten und nahezu bilderlos. Sie versucht sich an einer dreidimensionalen Typoaufgabe für Weingart, die sie verschleppt hat wegen zu Hause. Sie vermisst Franz, aber sie hat ja die Briefe.
Sie sind alle am Mittwoch gekommen, drei Stück, eine halbe Stunde vor ihrer Abfahrt, der erste vom Weihnachtsfeiertag aus Regensburg, der zweite drei Tage später aus München, der dritte am letzten Tag des Jahres wieder aus Regensburg. Franz beschreibt jedes Blatt von vorn und hinten, mit dünner Feder, die Abstriche bisweilen ungenau, aber dennoch ist jedes Wort ein Wortbild, steil und fest. Sie müsste das nicht zweimal lesen, aber sie tut es:
»Ich mache es allen recht, oder habe es jedenfalls versucht. Der Vater hat mich immer mit Geschenken geködert. Legound Eisenbahn und all dies Zeug. Valentina und Gert – meine Mutter und mein Stiefvater – waren natürlich dagegen, für sie mußte immer alles ›bewußt‹ sein. Waren die schockiert, als ich zur Bundeswehr gegangen bin. Nach dem Motto, ›Aber Bub, da wird doch gar nicht biologisch-dynamisch gekocht!‹ Zu Weihnachten nur Honigwachskerzen auf dem Tisch und zu Silvester kein Feuerwerk, weil das Geld dann den Kinderchen in der Dritten Welt fehlt. Ich versuche, nicht zur einen Seite zu neigen und nicht zur anderen. Die alternative Seite, um es allgemein zu sagen (denn am Ende gehen wir ja doch alle weder in Richtung Vater noch Mutter, sondern von beiden weg …), sieht sich selbst als non-materialistisch, aber mir stellt sich das nicht so dar. Nur ein anderer Begriff von Ökonomie. Mir macht es nichts aus, nirgends dazuzugehören, falls das mein Schicksal ist. Aber ich meine nicht Dich. Du bist von all dem frei, warum auch immer.«
Merkwürdig bleibt, dass er ihr keine Adresse genannt hat, mit der Begründung, er würde pendeln; nun hat sie eine Regensburger Anschrift, aber ihr will so gar nicht einfallen, was man antworten könnte. Auf einen Brief vielleicht, aber auf drei?
Die Professoren tun sich schwer, in der ersten Woche des Jahres in Erscheinung zu treten, aber die Werkstattleiter sind alle da, so dass man in Erfahrung bringen kann, wie man im Portraitstudio ein Glanzlicht setzt oder die Fotosetzmaschine bedient. Junge Männer bürsten sich das Haar aus, wo die Mutter sie zuletzt gestreichelt hat, und junge Frauen üben aufs Neue, nicht allzu häuslich zu sein. Wer große Geräte bedient, die 16-Millimeter-Bolex auf dem Stativ, sieht unangreifbar aus. Jeder erfindet sich einmal pro Semester neu, verwandelt sich von einem Landsknecht in einen Lackaffen, vom blonden Gretchen zur Büßerin, Röhrenjeans statt Bundfaltenhosen, Bluejeans statt Minirock, einer nimmt es plötzlichmit dem Waschen nicht mehr genau, der andere lässt sich ein bizarres Bärtchen stehen. Die Herkunft wird verwischt; was bleibt, ist der Charakter. Dorit ist charmant und schneidend zugleich. Chris verströmt Männlichkeit und Güte. Gerhard, nach Worten suchend, hohläugig, wirkt immer wie gerade aus einem Albtraum erwacht. Brit, hochgewachsen, trägt ihren Kopf wie eine kostbare Blüte; sie spricht nicht mit jedem. Alessandro hat Picassos Augen, zitiert aber bei jeder Gelegenheit Tucholsky.
Wer einen Klassenraum betritt, darin neun erwachsene Menschen, sieht Kameraden vor sich, Freunde vielleicht. Aber der Eindruck täuscht, es sind auch Feinde darunter, und die Liebespaare richten es vorerst so ein, dass es niemand merkt. In den Wohngemeinschaften werden Ideen ausgebrütet, Materialien getauscht, Moden gezüchtet. Die WGs sind die Heizwerke der Hochschule, Kaderschmieden der Fleischlichkeit, Netzwerke der Neigungen.
Die Straßen und Plätze heißen nach Ebert, Marx, Lassalle, Bebel, aber die Häuser haben riesige Augen, Falten und Grübchen, die Hauseingänge sind hoch und breit. Auf den Klingelschildern und drumherum wuchern die Namen. Im vierten Stock am Bebelplatz ist eine Wohnung mit sieben Zimmern seit dreizehn Jahren im Besitz von Kommunarden, die sich allerdings nicht mehr so nennen; weder ist ihr Zusammenwohnen »gesellschaftlich« motiviert, noch wollen sie die Öffentlichkeit davon überzeugen. Das ist bereits geschehen. Die Familien der Ärzte und Anwälte, die im gleichen Haus wohnen, sind sämtlich aus der WG im
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