Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Rolle. Die Kreise festigen sich von einem Semester zum anderen. Einige werden zu Vertrauten der Dozenten. Zum Glück kann man nicht ewig studieren, sonst wäre bald kein Platz mehr dort, wo sich die Talente tummeln. Wer nach Jahren zurückkehrt, als Professor zum Beispiel, würde sehen, wer wem in welcher Rolle nachgefolgt ist, als Könner oder Trickser, Vordenker oder Fürsprecher, Einheizer oder Guru. Jede Generation glaubt, die Rollen erfunden zu haben, in die sie schlüpft.
Die WGs rekrutieren ihre Neuen mit dem Elan der Snobs. Jeder kann sich bewerben, wer aber schließlich am Küchentisch sitzt, muss sich alle möglichen Fragen gefallen lassen. Sie sind fast unbeantwortbar, weil die Antworten offensichtlich sind: Der Neue muss alles können und alles wollen, sich der Gemeinschaft öffnen und mit ihr teilen. Aber es kommt nicht wirklich darauf an, was er sagt, sondern wie er es sagt. Esmeralda nehmen die Schmidts mit Kusshand. Aber als sie beschließen, das Fernsehzimmer hinter der Küche zu vermieten, weil die Kasse nicht mehr stimmt, kommt die Frage auf, ob man lieber einen Pendler will, eine Art Gast, oder ob der Platz hinter der Küche nicht doch vorgesehen wäre für die Seele des Betriebs, im Zweifelsfall eine Schöne als Köchin. Nicht, dass das jemand so sagt. Überhaupt ist die Belegung heikel, weil die sechs Zimmer immer nach Mann-Frau-Parität vergeben worden sind. Franziskus Maria wäre, allein vom Namen her, die unausweichliche Wahl. Tatsächlich stellt Franz sich vor, er erfüllt das Pendlerideal, wird Semesterferien in Bayern verbringen, kommt für nicht mehr als zwei Nächte ausGöttingen; sie befragen ihn mehr als eine Stunde lang, was für ihn spricht, dann hört er eine Woche nichts, und als er anruft, sagt ihm ein Mädchen, das selbst nicht dort wohnt, es glaube, das Zimmer sei vergeben.
Marleen begreift nicht, warum Franz sich bei den Schmidts beworben hat. Ach, sie würde ihn auch trösten, wenn es sein müsste, aber es muss nicht sein, denn Franz macht nicht die Schultern krumm und zieht den Kopf nicht ein und guckt nicht plötzlich an Leuten vorbei, nur weil es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Er bleibt der aufrechte, junge Mann mit dem forschen Schritt und den Augenfackeln, schwarzer Rollkragenpullover, Dufflecoat – das passt nicht zum Bebelplatz, niemals, nur dass er davon nichts weiß. Franz hat keine Angst vor Gören mit Dreadlocks und Palästinenserfeudel. Er scheint nicht zu merken, was die in ihm sehen, einen, der mal dringend einen durchziehen müsste, damit er auf die richtige Spur kommt. Oder Dorit, die jetzt bei Müller wohnt und in Typo aufgeholt hat, die hinter seinem Rücken raunt, und zwar so, dass Marleen es hört: »Bei so einem heißt es aufgepasst, der ist doch Opus dei.«
Marleen wird nicht mit der Herde dorthin traben, wo das Gras längst heruntergekaut ist. Sie will aber auch kein Sonderling sein. Das hat sie schon hinter sich, Neuss, der Schulhof:
»Der ihr Vater ist abgehaun in so’n Sexkloster in Indien …«
»Ach du Scheiße!«
»Und der ihre Mutter hat was mit dem Kaplan von Pius.«
»Oh Gott, dann musse aber woanders beichten.«
»Wenn die überhaupt richtig katholisch is’ …«
Was will er denn nur, der Franz, bei den anderen, die schlecht über ihn reden? Am besten, er hätte sie um das kleine Zimmer gebeten, das sie übrig hat. Sie selbst fragt ihn nicht, und auch sonst fragt sie nichts, was negativ beschieden werden könnte, sonst wäre ja sie die Bewerberin. Es muss von alleingeschehen, vielleicht hilft das Grün in der Karlsaue oder das neue Semester, er wird sich am Ende doch entscheiden müssen, Göttingen oder Kassel. Nie nimmt er sie mit nach Göttingen, wo er mit drei anderen Historikern, die keine Namen zu haben scheinen, bei einer liebenswürdigen, alkoholischen Witwe unterm Dach haust. Und Marleen ist nicht sicher, ob es dort nicht auch ein Liebesleben gibt, ob Franz nicht genau und in letzter Konsequenz das tut, von dem er sagt, dass er es tue, nämlich alle Möglichkeiten abwägen, die eine gegen die andere, um herauszufinden, was die beste aller Methoden sei. Was zu nichts führt, und was zu was.
Das Kleid
Viele konnten gar nicht nähen, oder falls sie es konnten, wollten sie nicht, so dass die Aufgabe an Esme und Bennie hängenblieb. Die Haustüren der beiden WGs waren in diesen Tagen nur angelehnt, weil es bei dem Besucherstrom nicht mehr lohnte, jedesmal einzeln zu öffnen. Wer Esme bei den Schmidts beschäftigt fand,
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