Nichts Weißes: Roman (German Edition)
isser auch nich’ aus Tirol.«
»Aus Südtirol. Die Mutter ist Italienerin, oder fast.«
»Oder fast gar nicht. Mal ehrlich.«
»Er ist mehr beim Vater in München aufgewachsen, aber auch bei der Mutter in Regensburg.«
»Klar, der macht ’ne Bäderkur in Budapest und feiert Karneval in Rio.«
Nach dem sechsten Alt ist Marleen dann flüssig, oh, wie gut sie ihn schon kennt, den Göttinger Grübler, den Zweifler, den Pendler.
»Franz hat eine phänomenale Auffassungsgabe. Er kommt in einen Raum und kann dir später ein Dutzend Personen aufzählen, alle, aber auch, was die anhatten.«
»Das gibt’s manchmal bei Verrückten«, sagt Cristina, ein Lachen unterdrückend.
»Und er hat ein echtes Gespür für Buchstaben, aber er liest wie der Teufel.«
»Wie meinst du, aber …«
Marleen merkt nicht einmal mehr, dass sich Cristina über sie lustig macht. Es trägt sie davon. Sie vertraut ihrer Schwester den Traum mit dem Pferd an. Cristina ist begeistert,
»Ein nacktes Pferd! Jetzt versteh’ ich, Marleen. Kein Wunder, dass es mit dir durchgeht.«
Sie gehen sonst nicht Arm in Arm, doch jetzt erweist sich das als günstig für das Gleichgewicht. Sie wissen nicht mehr, wo sie losgegangen sind, wie spät es ist und wo sie hinwollen, aber es kann noch nicht Mitternacht sein. Urplötzlich bleibt Marleen stehen:
»Hey, siehst du das an der Ecke?«
»Das an der Ecke.«
»Die Ecke!«
»Biste jeck?«
»Das ist Papas Lokal.«
Cristina ist gar nicht angetan von der winzigen Kneipe an der Ecke mit den merkwürdigen beschrifteten Glasscheiben, aus der Rauch kommt, als würde es drinnen brennen. Aber da hat Marleen sie schon bis zur Tür gezerrt, dort werden sie hineingezogen von fremden Armen, von der Skifflemusikangesaugt, und sofort mit Schnäpsen versorgt. Drei Minuten zieht Cristina den Kopf ein, bis sie begreift, dass Papa Petrus hier nicht ist, dann wird sie locker, sie sieht sich das an, diese Schnapsnasen, Frackträger, verwegenen Ladies jenseits der vierzig, getrieben vom Banjo, gewiegt von der Posaune, die Musiker, oh Schreck, stehen auf dem Tresen. Marleen quatscht mit einem glubschäugigen Typ, fusselige schwarze Koteletten, als würde sie den schon immer kennen. Es ist so voll, dass umfallen unmöglich ist. Während draußen die Knallfrösche hochgehen, als würde die Altstadt bombardiert, steigt die Kombo hinter der Bar herunter und zieht über die Küche ab. Jemand bedient den Plattenspieler: Es ertönt eine Fanfare aus einem Synthesizer, die sich wiederholt, während aus einem Loch weiter hinten im Tresen eine Figur auftaucht. Erst der Kopf, dann der Rumpf, die Beine, eine Art Statue, vom Fasslift aus dem Keller an die Oberfläche des Tresens getragen, wo sie nun stillsteht. Plötzlich schallt ein metallischer Beat aus den Lautsprecherboxen. Die Figur beginnt sie sich in Zeitlupe zu entkleiden. Es ist ein Mann.
Die Beleuchtung in der S-Bahn blendet die beiden. Der Schwefel des Feuerwerks hat sich in die Nase gefressen. Der Alkoholexzess rächt sich mit der Löschung von einigen tausend Zellen im Gehirn. Aber das merken die Schwestern nicht. Was ihnen zusetzt, ist der plötzliche Entzug von Alt, Altstadt, Älteren, was ihnen fehlt, ist die gewaltige schunkelnde Kohorte, diese Lebensdröhnung, die es so nur dort gibt, das Geldding, das Künstlerding, das Alles-oder-nichts. Diese unverbrüchliche Saufbrüderschaft unter Freunden und Fremden, egal, Wiederaufbau gespiegelt in Wiederabbau, der Tag mit Wucht geworfen in die Nacht, seit Jahrzehnten, und soeben waren sie noch Teil dessen, eingepackt ins karnale Ganze. Die Lebensgier der Meute gebündelt im Auftritt der lebendigen Statue, von schräg unten gesehen, reglos nackt imGebrüll für eine Minute, bevor jemand das Licht ausmacht, und als es wieder angeht, ist der Mann weg und sein Bild ins Gedächtnis eingefräst. Nun sind sie unterwegs in der Gegenrichtung, volltrunken und kaputt, in Wirklichkeit nur weggegangen, aber sie fühlen sich verlassen, vom Rumpeln der Bahn gerädert. Cristina kriegt kaum noch die Augen auf, die nun auch nicht mehr so florentinisch sind, und sie lallt.
»Mar… Marleen. Wie findst du eijtch l… l… l…«
»Lesben?«
»L… l…«
»Lebkuchen?«
»Eh, verarsch misch nit.«
»Ja, wat denn?«
»Lecken.«
»Wie rum?«
»Wie wie rum?« Das ist nun wirklich zu viel für Cristina, die Kleine, die links von rechts und oben von unten und den Rhein von der Autobahn nicht mehr unterscheiden kann. »Am Kaiser« schafft sie
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