Nichts Weißes: Roman (German Edition)
vollautomatischen, hydraulischen, blinkenden Weihnachtswelt, das Ganze in 3-D, was aber mit Antoines Sprachgemisch zu tun haben mochte, Kjell ein Zuhörer mit Engelsgeduld, Marleen mit dem gelben Block auf den Knien … – dass Marleen sich besann auf etwas, was eine Muddy ihr am Wochenende zuvor eingeflüstert hatte.
Muddy, die eigentlich Maria hieß, sprach ein hartes Englisch. Marleen hatte den Namen zunächst missverstanden, und als es rauskam, fand Maria oder Mary, sie solle dabeibleiben. Muddy wohnte in der Etage über ihnen, zusammen mit Gabor, ihrer Jugendliebe aus Ungarn. Er war zuerst emigriert und hatte sie später nachgeholt. In Ungarn war er Setdesigner beim Film gewesen, hier betrieb er eine Firma für Film-Accessoires, was man dem Loft ansah, eine Wunderkammer der Unwahrscheinlichkeiten. Muddy hatte akademisch Zeichnen gelernt. Jetzt lebte sie von scherenschnittartigen, nahezu abstrakten Cartoons, die im New Yorker als Seitenfüller dienten. Gleichzeitig belieferte sie wöchentlich die Village News mit einem Comicstrip über ein Emigrantenpaar, das in einem Loft lebte, in dem die unwahrscheinlichsten Dinge zum Weiterverkauf angesammelt waren, ein komplettes Inventar des häuslichen Nordamerika der vergangenen hundert Jahre, das Muddy akribisch darstellte, am liebsten bei Nacht mit gruseligen Schatten. Irgendwie wollte es nicht recht vorwärtsgehen mit dem Leben der beiden. Sie waren nicht unglücklich, oder falls sie es waren, konnten sie es nicht zum Ausdruck bringen. Jede Folge handelte von einer Falle im Alltag, in die das Paar tappte, ungeschickt und tüchtig, fühllos und hilflos zugleich. Die Serie über die verschworenen Unglücksraben hatte Maria eine kleine Fangemeinde beschert. Soeben war ihr Vertrag mit der Village News um ein Jahr verlängert worden, und Muddy brauchte das Geld.
Allerdings, das hatte sie Marleen anvertraut, sei der Anekdotenstoff letztlich begrenzt, um nicht zu sagen aufgebraucht, so dass der Comic nur durch formale Erfindungen am Leben gehalten werden könne. Sie plante deshalb, die Helden demnächst, zumindest gelegentlich, in einer Hieroglyphensprache sprechen zu lassen, die aber nicht die üblichen Symbole verwenden sollte – Hammer oder Totenkopf –, sondern weit weniger drastische Zeichen, die in Wirklichkeit Buchstaben darstellten, eine Geheimschrift, die die eingeweihten Leserauch entschlüsseln würden können. Marleen hatte ihr zu der Idee gratuliert. Die andere sah sie erstaunt an: »Ich dachte, Typo ist dein Beruf?«
Marleen, während Antoine noch immer plapperte, machte eine Liste: Kreis, Pluszeichen, Tropfen, Jesuskreuz, Frostsymbol und einige andere Formen, die sie meinte, an schmiedeeisernen Pforten in Paris gesehen zu haben.
»Und der Davidstern?«, fragte David.
»Die Zeichen für männlich und weiblich«, schlug Kjell vor.
»Das Stoppschild!«, forderte David.
»Schnee«, flüsterte Antoine.
Kjell und David waren außer sich. Eine Geheimschrift zu erfinden war so viel erquicklicher, als sie entschlüsseln zu müssen.
Am Montag folgte wieder die Routine, Marleen mit Antoine per U-Bahn zum Kindergarten auf der Westseite, dann sie mit dem Taxi südlich um den Central Park zur Ostseite. Bei IOM lag in ihrem Fach ein Fax von Furrer, das besagte, sie möge im Januar nach Paris zurückkehren. »Sie werden dann Passeraub bis zum April auf drei oder vier seiner Reisen begleiten können, bis die Tempi Novi und alle anderen Schriften, die wir entworfen haben, bei IOM in jeder möglichen Anwendung freigegeben werden können.«
In der Nacht zum Dienstag erschienen ihr Cristinas Augen, fragend, mutierend zu den bittenden Augen Franzens, dann ging der Traum über in Grau, terrain vague, und kehrte am frühen Morgen zurück. Jetzt waren es die Augen Tom Bryans, so nah, dass sie ineinanderflossen wie auf einem kubistischen Gemälde. Er war warm und roch nach Borke. Als sie erwachte, standen ihre Brüste wie Zitronen. Sie warf sich einen Pullover über, floh zu den anderen in die Küche und ergänzte den fehlenden Buchstaben, das »e«. Es war ein Auge.
»Wie nennen wir das?«
»Wie nennen wir was?«
»Den Font.«
»Marleen.«
»Blauer Engel.«
»Glyph.«
»Stealth Font.«
»Broome Script.«
»Broome Street Glyphs.«
Marleen: »Genug! Wie nennt man Dinge, von denen man nicht genau weiß, was sie sind?«
David: »Aliens.«
Kjell: »Bullshit.«
David: »Niemals nennt man das Bullshit.«
Kjell: »Disambiguities.«
David: »Dingbats.«
Marleen:
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