Nick aus der Flasche
die Wangen sanft gerötet. »Quatsch, du hast dich halt einfach so gefreut. Der Kuss hat doch nichts bedeutet.«
Er hatte nichts bedeutet? Hatte er nur
ihr
nichts bedeutet? Sein Herz raste immer noch wild vor Zuneigung und schmerzte zugleich wegen dieser Abfuhr. Außerdem spürte er etwas anderes tief in sich, als ob sich ein Teil aus ihm gelöst hätte, eine unbestimmte Leere. Aber vielleicht brannte nur die Enttäuschung in ihm.
Fürs Erste wollte er nach draußen, brauchte frische Luft und musste Julies betörender Nähe entfliehen, um einen klaren Kopf zu bekommen.
»Natürlich, es war bloß rein freundschaftlich«, stammelte er, fuhr sich durchs Haar und stand auf. »Ich geh ein bisschen raus, falls du nichts dagegen hast.« Taumelnd und ohne Julie anzusehen durchquerte er ihr Zimmer und trat in den Flur. Dort stieß er beinahe mit ihrer Mom zusammen.
»Nick!« Überrascht schaute sie ihn an. »Ich wusste nicht, dass Sie hier sind. Ich war doch eben in Julies Zimmer.«
»Hallo Mrs. Reynolds, ich, ähm … bin auch gerade erst gekommen, um mit Julie Hausaufgaben zu machen, hab aber was vergessen. Bin gleich wieder zurück.« Damit quetschte er sich an ihr und dem Wäschekorb in ihren Händen vorbei und lief die Treppen nach unten.
Kapitel 10 – Geister der Vergangenheit
Nick wusste im ersten Moment nicht, wo er hingehen sollte, daher schlug er wahllos eine Richtung ein und marschierte die Ramona Avenue entlang. Fußgänger sah er keine, bloß einen Autofahrer und eine alte Frau, die ihren Vorgarten pflegte. In diesem Viertel schien kaum etwas los zu sein, wahrscheinlich hatte sich Julies Familie deshalb hier niedergelassen. Es war schön in dieser Gegend. Ruhig, grün und idyllisch.
Als er an einem Mann vorbeikam, der an seinem Wagen herumschraubte, fiel ihm plötzlich ein, wie er sich bei Julie revanchieren konnte. Erst heute Vormittag hatte er noch daran gedacht, aber er war wegen des Kusses so aufgewühlt, dass er es fast vergessen hatte. Er würde ihr etwas schenken, das sie sich wirklich wünschte. Doch dazu musste er zurück an jenen Ort, vor dem er sich am meisten fürchtete: Solomons Haus.
Daher machte er auf dem Absatz kehrt und lief in die andere Richtung. Automatisch hatte er sich zuvor entschieden, dem alten Ort des Grauens nicht zu nahe zu kommen, aber nun musste er ihn betreten.
Nick bekam Schweißausbrüche und seine Knie zitterten, als er das heruntergekommene Haus erblickte. Eine hohe Hecke wucherte um das Grundstück, das nur durch ein verrostetes Gartentor betreten werden konnte.
Erneut schaute sich Nick um. Niemand war in der Nähe, und da er zu aufgeregt war, um sich klein zu machen, nutzte er die Gunst der Stunde und öffnete das Türchen. Die verrosteten Angeln quietschten, und das Geräusch jagte ihm eiskalte Schauder über den Rücken, obwohl es ein warmer Tag war. Sein Herz klopfte so wild, dass er das harte Schlagen in den Ohren vernahm.
Hastig schloss er die Tür hinter sich und kämpfte sich durch den verwilderten Garten auf die Rückseite des Hauses. Dank der hohen Hecke blieb er unentdeckt. Durch die Vordertür wollte er nicht einbrechen, da vorbeilaufende Passanten ihn entdecken könnten, allerdings gab es eine Hintertür.
Müll versperrte ihm den Weg, alte Teppiche, haufenweise Bretter und Plastiksäcke. Außerdem standen Farbeimer und Leitern herum. Ob jemand das Haus gekauft hatte und es renovieren wollte? Nick hatte zumindest kein Verkaufsschild im Garten entdeckt.
Vorsichtig und möglichst geräuschlos balancierte er über den Abfall zur Hintertür. Hoffentlich war niemand zu Hause. Noch mehr bangte Nick, dass bisher keiner den geheimen Hohlraum entdeckt hatte.
Er legte die Hand an den Knauf und drehte ihn. Es war nicht verschlossen.
Vorsichtig drückte er die Tür auf und lugte ins düstere Haus. Er vernahm keine Bewegung, hörte kein Geräusch. Wahrscheinlich wollte nicht mal eine Maus hier leben. Obwohl Solomon tot war und kein Möbelstück mehr in dem Haus stand, fühlte es sich an, als würde der Alte immer noch anwesend sein.
Langsam gewöhnten sich Nicks Augen an die Dunkelheit, und er erkannte nichts als Dreck und Staub auf dem abgetretenen Holzboden.
Er zögerte jedoch, das Haus zu betreten. So viele Jahre hatte er sich gewünscht von hier zu entkommen – er musste verrückt sein, diesen Ort wieder zu betreten. Was, wenn er nicht mehr herauskam?
Er dachte an Solomons mächtigen Zauber, der ihn daran gehindert hatte, zu fliehen. Aber alle
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