Nick Stone - 02 - Doppeltes Spiel
geklaut wurde. Die Timberlands warf ich hinein; ich hatte keine Lust, sie hier in einen Abfallbehälter zu stopfen, denn schließlich hatte ich sie gerade erst eingelaufen. Dann öffnete ich eine Packung Imodium und schluckte vier Kapseln. Auf dem
Beipackzettel stand, man solle höchstens zwei nehmen, aber das war mein Leben lang mein Problem gewesen: Ich hörte nie auf gute Ratschläge.
Ich nahm den Rucksack, an dem ich den Sportbogen
festgeschnallt hatte, über meine rechte Schulter, prägte mir die Lage der Häuser am Seeufer nochmals ein und marschierte los.
Mein Plan sah vor, dass ich dem Ufer folgen, den Bach überschreiten und wieder dem Seeufer folgend ans Ziel gelangen würde. Auf diese Weise vermied ich es, die Zufahrt benutzen zu müssen. Das Risiko, dass dort Fahrverkehr herrschte, war zu groß, und ich wusste nicht, wie wachsam die Bewohner der beiden Häuser waren. Auf der Zufahrt konnte ich auffallen, bevor ich mein Ziel überhaupt erreichte. Hatte man jedoch einen vernünftigen Plan, brauchte man sich um solche Dinge keine Sorgen zu machen.
Ich kam am Wagen des Liebespaars vorbei. Alle Fenster waren stark angelaufen, aber dahinter waren schemenhaft merkwürdige Bewegungen zu erkennen.
Einige Schritte weiter fiel mir am Grillplatz eine dort angenagelte Tafel mit dem rot geschriebenen Wort
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WARNUNG auf. Ich blieb davor stehen, um den Text zu
lesen; je mehr Informationen ich hatte, desto besser. »Achtung, Wanderer!«, hieß es auf der Warntafel. »In der Jagdsaison kann im unmittelbar an den Park angrenzenden Revier der Wildlife Ressources Commission mit Schusswaffen und
anderen legalen Waffen gejagt werden. Bitte bleiben Sie in der Jagdsaison auf den markierten Wegen, um die Gefahr von schweren Verletzungen oder Todesfällen zu minimieren. Das Tragen eines Kleidungsstücks in orangeroter Leuchtfarbe wird nachdrücklich empfohlen.« Alles schön und gut – aber wann zum Teufel war die Jagdsaison?
Ich ging weiter und erreichte auf Höhe der Zelte einen zwei Meter hohen Holzzaun, der den Platz zu umgeben schien. Als ich dem Zaun folgte, kam ich zu dem so genannten
Recyclingzentrum, das aus drei verzinkten Abfallbehältern für Kunststoffe, Glasflaschen und Aluminiumdosen bestand. Ich umging es und hatte nun den ungefähr zehn Meter breiten gerodeten Uferstreifen vor mir. Aus dem Sandboden ragten zahlreiche drei bis fünf Zentimeter hohe Baumstümpfe, an denen ich mir immer wieder die Zehenkappen meiner Stiefel anstieß, während ich dem Ufer folgte.
Als meine Augen sich nach einigen Minuten an die
Dunkelheit gewöhnt hatten, kam ich besser voran. Die Gewöhnung an nächtliche Verhältnisse dauert erstaunlich lange. Die Zapfen der Netzhaut, die Tagessehen und Farbsehen vermitteln, sind nachts wertlos. Ihre Aufgabe muss dann von den Stäbchen am Rand der Iris übernommen werden, die wegen der konvexen Form des Augapfels in einem Winkel von fünfundvierzig Grad stehen. Versucht man daher, einen Gegenstand nachts klar zu sehen, indem man ihn starr fixiert, 201
sieht man ihn nur verschwommen. Man muss gewissermaßen an ihm vorbeisehen, damit die Stäbchen sich auf ihn ausrichten und ihn klar abbilden können. Es dauert etwa vierzig Minuten, bis die Stäbchen ihre volle Sehkraft erreichen, aber schon nach fünf Minuten fängt man an, besser zu sehen.
Aus den Zelten war ab und zu das leise Klirren und
Klappern des Geschirrs von Leuten zu hören, die vermutlich beim Abendessen waren. Was sie miteinander redeten, war nicht zu verstehen, aber ich konnte mir vorstellen, dass ihre Gespräche um das Thema »Wessen Idee ist dieser
Campingurlaub überhaupt gewesen?« kreisten. Und ich hörte, wie ein tragbarer Fernseher eingeschaltet wurde, aus dessen Lautsprecher Jingles und dann die Stimme eines Sportreporters kamen.
Obwohl ich mich hier noch keineswegs hinter den
feindlichen Linien befand, überlegte ich mir die ganze Zeit: Was tue ich, wenn ich jemandem über den Weg laufe?
Antwort: Ich mache hier Urlaub, ich bin auf einer
Nachtwanderung. Ich würde den dämlichen Briten spielen, der ahnungslos durch die Gegend stolpert, und versuchen, die Begegnung zu meinem Vorteil zu nutzen, um möglichst viel über die beiden Häuser zu erfahren. Man braucht immer einen Grund, um sich irgendwo aufzuhalten, damit man nicht herumstottert, wenn man angehalten wird, und sich erst eine windige Ausrede einfallen lassen muss. Außerdem erzeugt das bei einem selbst eine bestimmte Einstellung, die es einem
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