Nick Stone - 02 - Doppeltes Spiel
erleichtert, den Auftrag selbstbewusster durchzuführen.
Ich verließ den gerodeten Uferstreifen, als er allmählich schmaler wurde, und arbeitete mich durch den Jungwald zwischen Zaun und Wasser vor. Dieses Wäldchen war wirklich 202
kein Dschungel; die größeren Bäume standen eineinhalb bis zwei Meter auseinander, und zwischen ihnen wucherte
Unterholz. Der Boden war an manchen Stellen nass und schlammig, aber so flach, dass ich gut vorankam.
Ich hatte eben das Ende des Zeltplatzes erreicht, als ich plötzlich dicht vor mir eine Frauenstimme kreischen hörte:
»Jimmy! Jimmy!« Bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich auf das junge Paar vom Grillplatz gestoßen, und die Art und Weise, wie ihre Kleidung jetzt arrangiert war, ließ darauf schließen, dass sie ihre Steaks auf dem Grill ganz vergessen hatten. Diese Begegnung verwirrte mich; ich hatte das junge Glück in seinem Wagen vermutet.
In solchen Fällen gibt’s zwei Möglichkeiten: Die beiden Überraschten genieren sich, murmeln eine Entschuldigung und hauen ab, oder man hat Pech, weil der andere Kerl beweisen zu müssen glaubt, dass er ein richtiger Kerl ist.
Ich blieb nicht stehen, sondern wich nach rechts aus, um die beiden zu umgehen. Während ich scheinbar darauf achtete, wohin ich trat, behielt ich in Wirklichkeit den jungen Mann im Auge. Als er »Scheiße, wer sind Sie, Mann?« brüllte, war klar, worauf die Sache diesmal hinauslaufen würde. Er hielt mich an, indem er mir eine Hand auf die Schulter legte und kräftig zudrückte. Ich hielt den Kopf gesenkt, um durcheinander und eingeschüchtert zu wirken – und um mein Gesicht zu schützen, falls die Sache ausartete.
»Äh, tut mir Leid, dass ich Sie gestört habe«, murmelte ich.
»Was soll der Scheiß?«, fragte er aufgebracht. »Sind Sie ein Spanner, oder was?«
»Jimmy!« Die junge Frau versuchte so zu tun, als bürste sie Sand von ihrem Rock. Ich konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit 203
nicht sehen, aber ihr Tonfall verriet, dass sie sich genierte und abhauen wollte. Er hatte es geschafft, seine Levi’s
hochzuziehen und zuzuknöpfen, aber sein Hosenschlitz stand noch weit offen. Ich sah seine Unterhose weiß hervorleuchten und musste mich beherrschen, um nicht vor Lachen
loszuprusten.
Ich sprach wieder mein miserables Amerikanisch, bemühte mich aber, einen ängstlichen, unterwürfigen Tonfall in meine Stimme zu legen. »Nein, nein, durchaus nicht«, versicherte ich ihm. »Ich wollte mir nur die Schildkröten ansehen.« Das würde hoffentlich genügen, um ihn davon zu überzeugen, dass er hier der große Zampano war, sodass er mich gehen lassen würde. Mein Sportbogen passte natürlich nicht zu dieser Geschichte, aber ich hoffte, dass ihm der zwischen Rücken und Rucksack eingeklemmte Bogen nicht auffallen würde.
»Schildkröten? Wer sind Sie – Mr. Nature vom
gottverdammten Discovery Channel?« Dieser Geistesblitz gefiel ihm; er lachte glucksend und drehte sich Anerkennung heischend nach seiner Freundin um.
»Sie bauen ihr Gelege am anderen Seeufer«, erklärte ich ihm. »Das tun sie nur in dieser Jahreszeit.« Im Gegensatz zu euch beiden, fügte ich im Stillen hinzu. Ich schwafelte weiter davon, wie die Schildkröten an Land kamen, um dort ihre Eier abzulegen – was ich tatsächlich aus einer Sendung im Discovery Channel wusste. Außerdem stand in meinem
Vogelbeobachtungsbuch, wo sie anzutreffen waren.
Lover Boy lachte; er hatte das Gefühl, seine Ehre gerettet zu haben. Ich war kein Spanner, sondern nur ein harmloser Naturfreund im Anorak. Weil er nicht recht wusste, wie er darauf reagieren sollte, lachte er nochmals. »Schildkröten, 204
Mann, Schildkröten!« Dann legte er den Arm um seine
Freundin und ging mit ihr in Richtung Seeufer davon.
Ich war noch mal davongekommen, aber dieser
Zwischenfall war ärgerlich, weil die beiden jungen Leute mich nun möglicherweise identifizieren konnten. Vorerst spielte das keine Rolle, aber falls später ein Drama passierte, würden sie sich vielleicht an diese Begegnung erinnern. Andererseits hätte alles noch schlimmer kommen können; zum Glück war der junge Mann kein begeisterter Naturliebhaber gewesen.
Es war 22.27 Uhr, und ich hatte zwei Stunden gebraucht und war beim Durchwaten des Bachs bis zu den Oberschenkeln nass geworden, um eine Stelle zu erreichen, die ungefähr sechzig Meter vom Ziel entfernt lag. Ich befand mich direkt am Seeufer, denn wegen einiger Bodenwellen war das Haus nur von dort aus anständig zu
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