Nick Stone 06 - Feind ohne Namen
in den letzten Tagen in meiner Bauchtasche mit mir herumgetragen. Der Rest der Einrichtung war mir neu. Vor dem Fernseher stand ein dreisitziges grünes Sofa, und sein Regenmantel war über die Rückenlehne eines Sessels geworfen. Rechts an der Wand stand ein kleiner Mahagonitisch mit zwei Stühlen.
Der offene Kamin war mit grauen Kacheln aus den dreißiger Jahren verblendet, und im Feuerraum war ein ebenso altes Gasfeuer installiert. Es brannte nicht. Auf dem Kaminsims standen ähnliche Ziergegenstände wie auf dem Fernseher: klobige Modelle von Moscheen in Messing und Glas. Darüber hing ein gerahmtes Foto, das Mekka zur Zeit des Hadsch zeigte, neben Familienfotos von einem silberhaarigen Paar und einer Hochzeit in traditionellen Gewändern. Die beiden anderen Türen dieses Raums waren geschlossen.
»Treten Sie ein. Ihr Kind ist okay, ja?« Der Informant saß vor dem ohne Ton laufenden Fernseher auf dem Sofa. Auf der Armlehne neben ihm lag ein Handy. Er trug noch immer seinen blauen Anzug, aber er hatte die Krawatte abgenommen und den obersten Hemdknopf geöffnet. Vor seinen Füßen lag die vierte Sporttasche.
Ken Livingstone trat live auf: klatschnasses Haar,
Dutzende von Mikrofonen vor dem Gesicht. Das Textband teilte mit: »Oberbürgermeister ohne
Informationen über einen Anschlag; alle Anstrengungen konzentrieren sich auf Wiederinbetriebnahme der U- Bahn.«
Der nächste Text war eine aktualisierte Meldung. »Ungenannter Mitarbeiter des Außenministeriums informiert BBC über bevorstehenden Biowaffenanschlag auf U-Bahn-System. Regierung hält Informationen über öffentliche Sicherheit zurück. Regierungssprecher nennt Bericht erfunden, appelliert an Öffentlichkeit, Ruhe zu bewahren.«
Der Jasager musste Simon am Samstag in dem Glauben entlassen haben, alles sei vorüber. Das hatte vielleicht auch Simon gedacht - bis er von der U-Bahn- Sperrung gehört hatte.
Es würde nicht lange dauern, bis Sundance und Laufschuhe ihn aufgespürt hatten. Sundance würde den Arm in der Schlinge tragen, aber das würde ihn nicht sonderlich behindern. Mich hatte er vor zwei Jahren beinahe totgetreten; Simon würde es nicht mehr lange machen. Betrüblich, aber ich hatte ihn gewarnt.
Ich blieb an der Tür stehen und nutzte die Gelegenheit, um zu beobachten, was unter mir geschah. Eben öffnete sich die weiße Küchentür. Schatten fielen über den Fuß der Treppe. »Bitte ... , bitte, lassen Sie mich gehen .«
Sie schleppten Kelly zu dem Transit hinaus.
Scheiße, vielleicht würde ich sie nie Wiedersehen.
»Kelly!«
Ich stellte den Träger mit den Flaschen ab und war mit
drei Sprüngen die Treppe hinunter.
»Nick! Nick!«
Ich stürzte mich in dem kleinen Vorraum buchstäblich zwischen sie und die beiden Kerle. Meine Hände griffen nach ihrer Augenbinde, während sie - noch immer an Händen und Füßen gefesselt - wild strampelnd um sich schlug. »Alles okay, ich bin hier. Alles okay!«
Ich nahm ihre Augenbinde mit, als zwei gewaltige Pranken sich um meinen Hals schlossen und mich auf die Knie zwangen. Dann sah ich sekundenlang ihren schreckensstarren Blick, als Grau und Blau wieder grob zupackten. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Tut mir Leid, Nick, tut mir Leid ... , kein Disneyland.«
Ich konnte nicht antworten. Ich konnte kaum atmen.
Blaus Hand bedeckte Kellys Mund, und ich konnte nur noch ihre vor Angst wild rollenden Augen sehen. Wenige Sekunden später war sie verschwunden. Die Tür fiel ins Schloss, und die Pranken ließen mich los. Ich blieb nach Luft ringend auf dem Fußboden des kleinen Vorraums liegen.
Der Informant stand über mir, während ich mich langsam erholte.
Ich sah zu ihm auf. »Warum kann sie nicht hier bei mir bleiben?«
»Sie fährt nicht weit. Weshalb sind Sie so unverständig? Sie müssen um ihretwillen Ruhe bewahren. Ich habe den beiden befohlen, sie nicht zu töten. Eigentlich hatten sie Anweisung dazu. Wollten Sie mit Ihrem Kind sprechen, hätten Sie’s einfach sagen sollen. Kommen Sie, kommen Sie mit mir.«
Ich folgte ihm nach oben, hustete unterwegs würgend und hatte Mühe, genug Luft zu bekommen. Er hatte Recht: Ich musste mich beherrschen. Kelly hatte nichts davon, wenn ich ausrastete.
Er nahm die Flaschen mit und ging ins Wohnzimmer, aber ich blieb vorerst noch an der Tür stehen und horchte auf den Transit.
Scheiße, wann kommt Suzy endlich?
Der Informant deutete auf die Familienfotos über dem Kamin. »Sie fährt ins Haus des Sohnes unserer hiesigen Gastgeber.
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